Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 12, Dezember 2019


Weihnachten in Carolath und Forsthaus Ingersleben




                            Selige Kinderweihnacht



Wer schon die Siebzig hinter sich gelassen hat und - wie die Jugend sooft meint - zu den „altmodischen Alten" gehört, der denkt gern - und immer, immer wieder - an die Kindheit zurück.
Denkt ihr noch zurück, liebe Landsleute, als in der Vorweihnachtszeit in unseren Dörfern des Oderlandes der Ruprecht von einem Hause zum anderen ging, um nachzusehen, ob die Kinder brav und in der Schule fleißig waren? Und immer wurden die Kinder von Knecht Ruprecht reichlich mit Nüssen und Äpfeln bedacht, und die Äpfel durften wir dann in der Ofenröhre braten, so dass ihr Duft die Küche durchzog.
Und wie schön war es an den Abenden vor dem Weihnachtsfest, wenn die Erwachsenen draußen in der Wirtschaft noch ihrer Arbeit nachgingen, wir Kinder .aber in der Stube saßen und „lichteln" durften. Wir saßen hinter dem Ofen in der „Hölle" und sahen dem knisternden Feuer zu. Auf der Ofenbank stand ein Leuchter, in dem ein hohes Talglicht brannte, das damals nur fünf Pfennig kostete.
Von den Weihnachtsvorbereitungen bekamen wir Kinder fast nichts zu spüren. Deshalb waren wir immer in einer schrecklichen Spannung, die - je näher der Weihnachtsabend kam - immer quälender wurde. Unser ältester Bruder - er war zehn Jahre älter als ich - durfte den Weihnachtsbaum schmücken, der in Neusalz auf dem Markte gekauft worden war und den wir erst am Heiligen Abend nach dem Gang in die Christnacht zu sehen bekamen.
Stellte sich der Winter rechtzeitig ein, so dass es noch vor dem 24. Dezember geschneit hatte, dann konnten wir - wenn wir am Weihnachtsabend zur Kirche gingen - durch den Schnee stapfen. Und ich erinnere mich, was es für eine Freude für mich war, wenn ich vor unserem Kirchlein stand und von dort über den Oderwald hinweg nach Beuthen oder gar nach Glogau blicken konnte.
In der Kirche steckten wir unser Wachsstöckel an, das wir vor uns auf der Bank
stehen hatten. Hatte aber der Kirchvater die Kerzen an den beiden hohen Weihnachtsbäumen entzündet, dann war für uns der Höhepunkt der Christnacht gekommen. Auch hinter dem Transparent, das die Geburt Christi zeigte und über der Kanzel an der zweiten Empore aufgestellt war, waren die Kerzen angebrannt. Es war eine unaussprechliche Freude, die uns erfüllte. Die Glocken läuteten, und unser langjähriger Kantor Feder spielte das Eingangslied, wozu der Chor der Schulkinder sang.
Pastor Schulz, der in Carolath amtierte, folterte uns Kinder nicht mit einer zu langen Predigt, denn am Weihnachtsabend waren es meistens Schulkinder - und neben diesen einige ältere Personen -, die zum Gottesdienst gekommen waren. Für die Erwachsenen fanden die Festgottesdienste an den beiden Weihnachtsfeiertagen statt, und diese waren dann auch immer gut besucht. Die Bewohner der entfernteren Dörfer kamen sogar mit dem Fuhrwerke gefahren und nahmen dann am Gottesdienst teil.
Beendete das Geläute der Glocken unserer evangelischen Kirche die Christnacht, dann - so war es in den Dörfern Carolath und Reinberg üblich - wurden an den Christbäumen, die in den Stuben der Bauern und Landarbeiter, der fürstlichen Beamten und Angestellten standen, die Kerzen entzündet. Die brennenden Lichter strahlten dann in die Dunkelheit des Weihnachtsabends hinaus.
Zu Hause angekommen, führte uns die Mutter erst an den Weihnachtsbaum, bei dessen Anblick unsere Kinderaugen gewiss gestrahlt haben, denn wir sahen ja unseren Weihnachtsbaum nach der Christnacht zum ersten Male. Unser Baum war stets mit roten Äpfeln und Nüssen geschmückt und mit Baumbehang, einer Art Pfefferkuchen, wie er von den Pfefferküchlern hergestellt wurde, rot glasiert und weiß und grün verziert.
Hatten wir den Eltern unser Weihnachtsgedicht aufgesagt, dann durften wir
unsere Geschenke besehen, und nachdem wir unserer lieben Mutter eine Weihnachtsgabe in die Hände gelegt und ihr mit einem Kuss gedankt hatten, wurde die Heilig-Abend-Mahlzeit aufgetragen, es gab selbstgeräucherten, mageren Schinken oder auch Rauchfleisch, dazu Sauerkraut und Kartoffeln. Hinterher - wie hätte es in unserem schlesischen Dorfe und in meinem schlesischen Elternhause anders sein können - gab es Mohnklöße. Wir bauten den Mohn dazu ja selbst an und brauchten also nicht zu sparen. Unsere Mohnklöße schmeckten deshalb am Weihnachtsabend immer besonders gut.
Während wir Kinder in der Christnacht gewesen waren, hatten die Erwachsenen bereits unserem Vieh die Weihnachtsmahlzeit verabreicht. Ich weiß nicht, ob es auch in anderen Häusern Carolaths so üblich war; bei uns bekam jede Kuh, jedes Pferd, jedes Ferkel am Weihnachtsabend eine Schnitte selbstgebackenen Brotes, eine gute Tränke und reines Heu.
Unsere Familie war einst an einem Weihnachtsabend durch ein trauriges, tragisches Ereignis heimgesucht worden, deshalb blieb es nicht aus, dass unsrer guten Mutter - wenn sie sich am Weihnachtsabend dieser Begebenheit erinnerte - die Tränen übers Gesicht liefen. Wir Kinder versuchten deshalb, unserer sorgenden Mutter mit besonderer Liebe zu begegnen. Und wir freuten uns herzlich an den Geschenken, die wir nach dem Essen in die Hände nehmen und bewundern und auch — soweit es sich um Spielzeug handelte — damit spielen durften. Neben einem Spielzeug oder eine Puppe für die Mädchen erhielten wir Kleidungsstücke, einen Rock, eine Bluse, ein Kleid, einen Mantel, was wir eben benötigten. Wir Mädchen bekamen auch einmal eine Handarbeit, mit der wir uns dann wochen- und monatelang beschäftigten und unsere Handfertigkeit beweisen konnten.
Meine Landsleute aus der schlesischen Heimat backen gewiss auch heute wieder Mohnbabe und Rosinenstriezel. Möchten sie sich beides auch in diesem Jahre recht gut schmecken lassen!
Und vergesst nicht - liebe Freunde -, euren Kaffee aus „Bunzeltippeln" zu trinken, wie wir sie einst in der Heimat hatten, dann schmeckt er viel, viel besser!   



           Weihnachten im Forsthause Ingersleben


Die Kolonie Ingersleben gehörte zur Gemeinde Tschepplau, wo mein Vater als Revierförster des Grafen von Schlabrendorff amtierte. Ich zählte zwei Jahre, als unsere Eltern mit uns Kindern aus der Provinz Posen, wo mein Vater in Annamühle bei Tierschtiegel Förster gewesen war, nach Ingersleben verzogen. Meine Kinderzeit also habe ich im Forsthause verlebt, das anfänglich noch ein altes Fachwerkhaus war, welches erst später - als ich etwa zehn Jahre alt war - umgebaut wurde.
Stand das Weihnachtsfest vor der Türe, dann wanderte eine Liste in Tschepplau und Ingersleben von Haus zu Haus. Jeder Bauer, jeder Stellenbesitzer und Häusler, jeder Handwerker durfte auf diese Liste seinen Namen schreiben und zugleich vermerken, was er für seine Familie für einen Weihnachtsbaum benötigte und wie hoch er sein sollte. Es waren immer etwa 100 Bäume, die zum Weihnachtsfeste benötigt wurden. Unser Vater ließ sie durch unsere Waldarbeiter schlagen. Ein Wagen des gräflichen Dominiums fuhr die geschlagenen Bäume ins Dorf und lud sie vor den Häusern der Besteller ab. Das geschah völlig kostenlos, die Tschepplauer brauchten also für ihren Weihnachtsbaum keinen blanken Pfennig zu bezahlen. Sie hatten es allerdings auch nicht nötig, in den Wäldern ihre Weihnachtsbäume zu stehlen.
Damals - in meinen Kinderjahren - verkehrte zwischen Glogau und Schlawa noch alltäglich die Postkutsche. Der Postillion Gabler war ein freundlicher Mann und nahm uns Försterkinder - wenn schlechtes Wetter war - in seiner Postkutsche von Ingersleben mit nach Tschepplau zur Schule. Für seine Freundlichkeit bekam auch er von unserem Vater auch stets einen Weihnachtsbaum und zum Weihnachtsfest noch ein Wildkaninchen dazu. Der Vater erhielt alljährlich vom Dominium Tschepplau 200 Zentner Kartoffeln als Deputat. Diese Kartoffeln schickte er nach Weigmannsdorf im Kreise Fraustadt, wo sich eine Brennerei befand. Für einen Zentner Kartoffeln bekam unser Vater neunzig Pfennige, für die 200 Zentner also 180 Mark. Das war stets das „Weihnachtsgeld". Der Vater nahm es, um damit vor dem Fest in Glogau seine Einkäufe zu erledigen. Mit unserer Mutter fuhr er in einem Glaswagen des Dominiums in die Stadt - meistens eine Woche vor dem Weihnachtsfest - um Weihnachtsgeschenke einzukaufen, Kleidungsstücke und Wäsche, für jedes Kind ein Spielzeug, Pfefferkuchen beim „Honigkuchenfabrikant" Bittner auf der Kupferschmiedstraße, Blockschokolade bei Robert Kahl am Glogauer Markte, Kerzen und Glaskugeln für den Weihnachtsbaum bei Engwitz am Markte.
Und ich darf natürlich nicht vergessen zu berichten, dass alljährlich in der letzten
Woche vor dem Weihnachtsfeste zu uns der Ruprecht kam. Meistens war es ein Mann aus der Kolonie Ingersleben, der die Rolle des Ruprechts spielte. Er trug stets auf dem Rücken einen Sack mit Äpfeln und Nüssen, mit denen er uns Kinder beschenkte. Und ein solcher Ruprecht hat mich einmal, weil ich ihm ein bissel zu kess geworden schien, in den Sack gesteckt und mit mir im Sacke das Forsthaus verlassen und mich etwa 100 Meter weit mitgenommen. Dann erst ließ er mich wieder heraus und ich durfte nach Hause zu Vater und Mutter und den Geschwistern laufen.
Unsere Mutter buk vor dem Feste stets Streuselkuchen, mindestens fünfzehn Bleche voll. Wir hatten ganz in der Nähe in einem einstigen Gasthause einen Backofen, wo unsere Mutter die Bleche mit dem Teig hinbrachte und sie in dem Ofen schön braun und knusprig backen ließ.
Am Weihnachtsabend gingen wir Kinder - nur die Kleinen blieben daheim - mit dem Vater nach Tschepplau in die Kirche zur Christnacht. Meistens lag am Weihnachtsabend bereits Schnee, dann mussten wir etwa eine dreiviertel Stunde laufen, um zur Kirche zu kommen. Um fünf Uhr des Nachmittags begann die Christnacht. Unser Kirchlein sah festlich aus, denn natürlich stand ein Baum neben dem Altar, der mit Kerzen besteckt war, welche angebrannt waren. Unser Kantor Karl Bock saß an der Orgel und spielte eine wunderschöne Weihnachtsmusik. Unser Pastor Roye erzählte uns die wundersame Geschichte von der Geburt des Jesuskindes im Stalle zu Bethlehem. Und dann begann „der Quempas", diese wunderschöne, weihnachtliche Hirtenmusik, die von den Schulkindern, die in vier Chöre aufgeteilt waren, gesungen wurde.
Dass wir Kinder mit frohen Herzen an dieser Christnacht teilnahmen, versteht sich von selbst. Nach der Kirche stapften wir durch den Schnee heimwärts nach Ingersleben und freuten uns, wenn wir durch die Fenster des Forsthauses das Licht der Petroleumlampe scheinen sahen. Unsere Mutter nämlich war ja mit den kleineren Geschwistern daheim geblieben, sie hatte im Wohnzimmer für jedes Kind die Geschenke hingelegt und das Essen vorbereitet und wartete nun auf unsere Rückkehr.

Daheim angekommen klopften wir uns den Schnee von den Stiefeln, und während der Vater ins Wohnzimmer ging, um die Kerzen am Weihnachtsbaume zu entzünden, warteten wir sehnsüchtig auf das Klingelzeichen, das uns ins Wohnzimmer rief. Wie die Orgelpfeifen - die Kleinen voran, die Größeren hinterher - marschierten wir in das Wohnzimmer und sahen voll Staunen unseren schönen Weihnachtsbaum, den der Vater immer selbst zu schmücken pflegte. Die Glaskugeln an den Zweigen gleißten im Schein der brennenden Kerzen. Der Baum aber stand in einem Ständer, in den ein Drehwerk und ein Uhrwerk eingebaut waren. Betraten wir unser Wohnzimmer, dann begann sich der Baum im Ständer zu drehen und leise erklang - von der eingebauten Spieluhr - die Melodie „Stille Nacht, heilige Nacht" oder auch „O du fröhliche, selige, gnadenbringende Weihnachtszeit". Wir Kinder fanden - auf dem Tisch aufgebaut - unsere Weihnachtsgeschenke. Die durften wir besehen, wir durften auch unsere Spielzeuge bewundern und damit spielen. Ein Teller mit Süßigkeiten, Äpfeln und Nüssen stand bereit, von dem wir nehmen und essen durften.
Es mag immer so gegen 9 Uhr gewesen sein, wenn unsere Familienfeier beendet war. Dann trug die Mutter die Mohnklöße auf, die zu keinem Weihnachtsfeste fehlten. Es gab auch „Semmelmilch", Semmelstückchen, die in Milch gelegt, mit Zucker gesüßt und in den Keller getragen wurde, um schön frisch und kalt zu sein, wenn wir sie essen wollten. Dann aber gingen wir zu Bett. Der nächtliche Wind wehte ums Forsthaus, die Sterne standen hoch und fern am Himmel und sahen auf die wenigen Häuser von Ingersleben hernieder, wo die Menschen ein schlichtes, arbeitsreiches Leben führten und doch glücklich waren. […]




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