Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 3, März 2015

Winterausgang, Sommersonntag in Rauschwitz

von H. Kwak

 

Schlesien ist die Landschaft des verlorenen deutschen Ostens von ausgeprägtem kontinentalen Klima mit extremen Temperaturen im Sommer und im Winter. Nicht immer ist die kalte Jahreszeit reich an Niederschlägen, aber der Winter 1934/35 ließ viel Schnee fallen. Der Frühling kann in diesem Klima gleichsam über Nacht kommen, und so war es auch damals: am 4. März rodelten die Rauschwitzer Kinder noch, sich über so hohen Schnee freuend, den Kretschmerberg hinunter oder „schinscherten" auf dem Eis des Rauschwitzbaches. In der Nacht zum 5. März drehte der Wind von Ost auf Südwest, und im Verlaufe eines Tages fegte die milde Luft im Bündnis mit einer hell strahlenden Sonne die dicke weiße Decke von der Landschaft. Die Kinder stellten ihre Schlitten auf den Speicher und besannen sich, nachdem das Schmelzwasser in den Bach gelaufen oder im Boden versickert war, auf die alten Spiele dieser Jahreszeit, auf „Huckern" (Himmel und Hölle), „Schippeln" (Murmelspiel), auf Reifen- und Ballspiele und auf Kreiselschlagen. Pudelmütze, Pulswärmer und Muff hatten bis zum nächsten Winter ausgedient.

Es ging auf den Sonntag Lätare zu, den dritten Sonntag vor Ostern. 1935 war es der 31. März, denn Ostern lag spät in diesem Jahr. Lätare, d.h. freuet Euch!, ist in Schlesien der „Sommersonntag", an dem der Sommer angesungen und der Winter ausgetrieben wurde. In Rauschwitz sind die Bräuche dieses Tages „bis zum Schluss" gepflegt worden. Ihre Wurzeln reichen weit zurück in die Vergangenheit Schlesiens, in die vorchristliche oder in die Zeit der deutschen Besiedlung. Das Ansingen des Sommers, so vermutet man, könnten auch die fränkischen Bauern und Handwerker mitgebracht haben, als sie im 12. und 13. Jahrhundert von slawischen Fürsten ins Land gerufen wurden.

Weil der Sonntag Lätare an den Frühlingsmond gebunden ist, war es möglich, dass der Sommersonntag noch in die Tage winterlicher Kälte fiel, wie am 1. März 1931, oder in frühlingshaft mildes Wetter wie 1935. Aber ungeachtet möglicher Kälte stellten sich die Rauschwitzer Kinder freudig auf das Sommersingen ein. Tage vorher begannen sie mit den Vorbereitungen. Sie putzten ihre Sommerbäumel aus Wacholderzweigen, die sie aus dem Wald um „Tinels Gericht" holten oder schmückten Stecken mit bunten Papierbändern, Kränzchen aus Papierblumen, mit kunstvoll gefalteten Rosetten und umwickelten die Stecken mit farbigem Seidenpapier. Sonnen als Symbol des Sommers und papierne rote Rosen für die erblühende Natur fehlten nie bei dem farbenfrohen Schmuck.
Früh am Morgen des Sommersonntags wurde mancher Schläfer geweckt, wenn die Kinder in kleinen Gruppen, Haus bei Haus, in der näheren oder auch weiteren Nachbarschaft ihre Lieder ertönen ließen — Sommerlieder, die Generationen vor ihnen gesungen hatten: „Rot Gewand", „Rote Rosen blühen auf dem Stengel" oder „Die goldne Schnur geht um das Haus". Die kleineren, fünf- oder sechsjährigen, hielten sich mehr an die einfachen, kurzen Liedchen, wie „Ich steh' uffm Stein" oder „Ich bin a kleener Pummer", wobei sie sich, anders als die größeren, ihrer unverfälschten Mundart bedienten. Sie mussten schon einige Strophen singen, ehe sie die erwartete Belohnung in ihr Körbel oder Säckel tun konnten: Schokoladenkringel, Bonbons, Zuckereier, bunt gefärbte Hühnereier und anderes Naschwerk. Nie fehlten dabei Schaumbrezeln, das traditionelle Gebäck, das nur für das Sommersingen hergestellt wurde. Die Freude an diesem alten Volksbrauch und die Gebefreudigkeit der Rauschwitzer waren im allgemeinen so groß, dass es sich für die kleinen Sänger lohnte, zwischenzeitlich ihre Körbel und Säckel zu Hause zu leeren und einen neuen Anlauf zu nehmen. Es gab aber einige wenige Ausnahmen, wo die Türen verschlossen blieben, weil dahinter der Geiz wohnte oder der Sinn für diese schöne Sitte fehlte, wie es bei einem bestimmten, keineswegs armen Bauernhaus jedes Jahr für Jahr so gewesen ist. Trotzdem sangen die Kinder dort, sie beschränkten sich allerdings auf den Spottvers: „Hühnermist, Taubenmist, in diesem Hause gibt es nischt. Is das nicht ne Schande, die verdammte Bande."
Schaumbrezeln, ursprünglich eine Fastenspeise, wurde korbweise, ja waschkorbweise von den Bäcker am Sonnabendnachmittag geholt. Der Weißbäcker (Bäckermeister Bruno Weiß) hatte mit seinen Gesellen seit dem Donnerstag bis in die Nächte alle Hände voll zu tun. Ähnlich sah es beim Bäckermeister Ambrosius Thiel und später bei seinem Nachfolger Martin Senftleben aus. Bei Bäckermeister Franz Bombis halfen die Töchter Lina und Gretel, wenn sie vom Schulunterricht kamen, fleißig mit, um die große Zahl der Bestellungen zu befriedigen. Tochter Lina weiß heute noch, wie Schaumbrezeln gebacken wurden:
Die Zutaten sind Eier, Zucker und Weizenmehl. Zunächst wurden Eiweiß und Dotter von einander getrennt, das Eiweiß zu Schnee geschlagen und das Eigelb gründlich mit dem Zucker verrührt, danach wurde der Ei-Schnee unter die Menge gegeben, das Mehl hinzugefügt und alles zu einem festen Teig verarbeitet, der anschließend kalt gestellt wurde. Nach etwa einer Stunde teilte man ihn in kleine Portionen und formte Brezeln in Bleistiftstärke, die drei bis vier Stunden in kühler Umgebung ruhen mussten. Danach wurden sie in siedendem Wasser gekocht, bis sie obenauf schwammen. Mit kaltem Wasser abgeschreckt, wurden sie in Päckchen aneinander gereiht, in nasse Tücher gehüllt und über Nacht kalt gestellt. Am nächsten Tag, das war dann der Sonnabend vor Lätare, backte man sie auf Blechen hellgelb. Im Laden kosteten 4 Stück einen „Böhm" (= 1 Groschen oder 10 Pfennig).
Für die größeren Jungen, die schon in die oberen Klassen der Schule gingen, war der Nachmittag der wichtigste Teil des Sommersonntags. An Lätare war es uralter Brauch, den Winter in Gestalt des „Leisketod" auszutreiben. Jungen aus der Ölmühle, aus dem Umkreis um die Jäckelschmiede und aus dem Oberdorf hatten sich schon vor dem Sonntag zur Vorbereitung des Todesaustreibens zu Gruppen zusammengetan und ihren Leisketod geschaffen. Aus alten Hosen, abgetragenen Jacken und Pudelmützen, zusammengenäht und prall mit Stroh ausgestopft, waren mannsgroße Puppen entstanden, denen oft furchterregende Fratzen auf die nasenlosen Gesichter gemalt waren. Am Nachmittag sammelte sich die männliche Jugend am Kreuz, dem Platz im Oberdorf vor dem „Goldenen Frieden", der seinen Namen von dem dort stehenden großen Christuskreuz erhalten hat. Hier formierte sich der Zug, voran die Jungen mit dem Leisketod. Oft waren es zwei, drei oder vier dieser stummen Gesellen, die an Ärmeln und Hosenbeinen gepackt, durchs Dorf getragen wurden, wobei ihre Träger mit Knüppeln auf die Bäuche einschlugen, so dass schon mal die Strohfüllung zum Vorschein kam. Dazu sangen sie im Takt der Schläge ihr monotones, aus nur drei Tönen bestehendes Lied:
Der Leisketod,
der frisst mein Brot,
der Schmiedegesell,
der schwarze Kerl.

Und jedesmal auf „der" knallten die Bäuche unter den Schlägen der Knüppel. Ein anderer Vers wurde auch gesungen:
Der Leisketod,
der frisst kein Brot,
den Käse lässt er liegen
die Butter lässt er fliegen,
der Leisketod,
usw.

Die Rauschwitzer Bürger traten aus den Häusern, wenn der Zug sich lautstark ankündigte. Er nahm seinen Weg die Dorfstraße entlang, an der Schule vorbei, und wendete dort, wo die Pflaumenallee — die später die offizielle Bezeichnung „Friedhofsweg" erhielt — von der Hauptstraße abgeht. Das Ziel war der Sportplatz hinter dem Rathaus. Schaulustige hatten sich dem Zuge angeschlossen oder auf dem Platz sich eingefunden, um mitzuerleben, wie die Leisketode übereinandergepackt und angezündet wurden. Das Schauspiel war zu Ende, wenn nur noch ein Häuflein grauer Asche von dem Geschehen zeugte.

Vor 1926 pflegten die Strohpuppen den Feuertod auf der Kälberkoppel des Gutes von Hermine Cornelius zu erleiden. Es war die einzige Grasfläche im Dorf, ehe der Sportplatz angelegt wurde. Georg lllmann aus der lllmann-Mühle, Fotograf von Beruf, machte in vielen Jahren Aufnahmen mit seiner großen Plattenkamera. Man konnte sie im Postkartenformat für 25 Pfennig kaufen. Da es noch keine Farbfotografie gab, colorierte der „Illmann-Jorg" die Flammen auf den Fotos dramatisch gelb und rot mit Stabilostiften.
Der Brauch des Todesaustreibens ist aus einer Begebenheit entstanden, die rund 900 Jahre zurückliegt. Um die Jahrtausendwende ließ sich der Piastenherzog Miesko I., der auch über Teile Schlesiens gebot, zum Christentum bekehren. Wie die Untertanen seinem Beispiel nur unwillig folgten, ordnete er die Zerstörung ihrer heidnischen Götzenbilder an. Einer der slawischen Götter war Liska oder Leiske, der Gott der Finsternis und des Todes. Aus der Götzenzerstörung entwickelte sich der Brauch, der dem Leiske zur jährlich wiederkehrenden Auferstehung verhalf, um zur Freude der Menschen verspottet, geprügelt und schließlich verbrannt zu werden.
Dieser ursprünglich heidnische Brauch hat in christlicher Zeit die Deutung als Winteraustreiben bekommen. Während mancherorts in Schlesien, vornehmlich in den Städten, im Laufe der Zeit die alte Volkssitte mit anderem Brauchtum erstarb, blieb sie in Rauschwitz/ Rauschenbach lebendig.

Rot Gewand

Lieder zum Sommersingen

Die goldne Schnur geht um das Haus
Frau Wirtin geht wohl ein und aus
mit ihrer weißen Haube,
sie geht wie eine Taube.
Und wenn sie morgens früh aufsteht
und fleißig in das Kirchlein geht,
ins Kirchlein geht sie beten,
in den Himmel wird sie treten,
in den Himmel wird sie woll'n,
drei Englein werd'n sie hol'n.

Rot Gewand, rot Gewand,
schöne grüne Linden
suchen wir, suchen wir,
wo wir etwas finden.
Gehn wir in den grünen Wald,
singen die Vöglein jung und alt.
Wir hören ihre Stimme,
Frau Wirtin sind Sie drinne?
Sind Sie drin, dann komm'n Sie raus
und bring'n Sie uns was Schönes raus.

Rote Rosen, rote Rosen
blihen uff dem Stengel.
Der Herr is schien, der Herr is schien,
de Frau is wie a Engel.
Behit Dich Gott,
Doß se Glick und Segen hot.

Der Herr, der hat nen hohen Hutt,
er is den jungen Mädeln gutt,
er mecht se gerne kissen,
de Frau die derfs nie wissen.

Ich bin a kleener Pummer,
ich kumm zum Summer.
Loß mich nie so lange stehn,
ich muß a Häusel weiter gehn.

Ich steh uffm Stein,
mich friert ins Bein,
gäbt mer a Gackel,
doß ich konn weiterwackel.

Hühnermist, Taubenmist,
in diesem Hause gibt es nischt.
Is das nich ne Schande
in dem ganzen Lande!

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