Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 4, April 2009

Meine Reise in die alte Heimat Beuthen a.d.Oder
vom 20.8.-23.8.2008

 

von Joseph Decker

 

Man kann es drehen wie man will, meine eigentliche Heimat ist die Kleinstadt Beuthen a.d.Oder in Niederschlesien, in der ich geboren, aufgewachsen und 13 Jahre bis zum 12.02.1945 (Flucht) gelebt habe. Ich hatte Beuthen zwar mit Ilse und meiner Schwester Elisabeth vor 19 Jahren für 2 abgekürzte Tage aufgesucht. Aber in den letzten Jahren wollte ich noch einmal in aller Ruhe die Ecken und Winkel Beuthens und Umgebung wieder sehen und war neugierig, was sich verändert hat.
Das Schwierige bei diesem Vorhaben war die Tatsache, dass ich die polnische Sprache nicht beherrsche und m. E. in Beuthen kein Hotel vorhanden ist. Über Herrn Herbert Hoffmann, der aus dem Nachbarort Nenkersdorf stammt und vor einigen Jahren bei der Familie Szczygiel in Beuthen übernachtet hatte, konnte ich Kontakt mit dieser polnischen Familie aufnehmen, die mich nach einem Anruf und einem Brief über mein Vorhaben am 17.08. 08 kurzerhand einlud.

Am 20.08. trat ich die Reise mit der Bahn an. Sieben Stunden dauerte die aufregende aber recht angenehme Fahrt mit Umsteigen in Hannover, Berlin, Sorau (deutsch) und Grünberg (deutsch). Die Bahn in Hildesheim konnte nur eine Rückfahrkarte von Hildesheim nach Grünberg (Zielona Gora) ausstellen. Da die Umsteigezeit in Grünberg sehr knapp war, ich noch keine Zloty hatte und außerdem die Kreisstadt von Nittritz (Geburtstort meines Vaters) überhaupt nicht kannte und sehen wollte, entschloss ich mich, erst den übernächsten Anschlusszug zu nehmen, um mir in 1 ½ Stunden die östlichste Weinstadt Deutschlands (?) anzusehen.
Am Bahnhof deponierte ich mit Hilfe eines polnischen Pfadfinders, der mir die ersten Zloty eintauschte für die Aufbewahrungsgebühr des Koffers, um nur mit dem Rucksack in die ca. 1 km entfernte Altstadt zu gehen. Nach dem offiziellen Geldumtausch bei der nächstbesten Bank, bei der eine freundliche junge Dame kein Trinkgeld annehmen wollte, suchte ich ein Café auf, um ein Stück Mohntorte zu essen. Die Stadt macht einen sehr regen und freundlichen Eindruck mit schönen Fußgängerzonen. Was mich besonders erfreute, war die Tatsache, dass alle Hinweise in polnisch, deutsch und englisch ausgeschildert waren. Ich musste mich dann doch sehr beeilen, um den vorgesehenen Zug zu erreichen. Mit einer Rückfahrkarte Grünberg/Beuthen ging es dann mit dem Regionalexpress (Zielbahnhof Glogau) weiter. Unterwegs hielt der Zug selbstverständlich in Nittritz und der neuerlichen Kreisstadt Neusalz (mein letzter Schulort in Schlesien). Wie eh und je konnte ich etwa 1 ½ km vor Beuthen die 3 Spitzbuben (Rathaus, ev. und kath. Kirche bzw. deren Kirchtürme) ausmachen und die Spannung auf alles, was ich erleben würde, war auf dem Höhepunkt. Der Zug kam pünktlich in „Kuhbeuthen“ (es gibt nur noch 5 Kühe in Beuthen) an, wo mich Herr Szczygiel abholte.
Mein Quartier war in dem Haus der Familie S., Breite Str. 24, schräg gegenüber von dem früheren Kindergarten, in den ich ziemlich ungern mit meiner Schwester Elisabeth gegangen war.

Meine Gastgeber servierten kurz nach der Ankunft sogleich ein warmes, wohlschmeckendes Mittagessen, bei dem sich doch ziemlich große Verständigungsschwierigkeiten zeigten. Dabei hatte ich jedoch auch Glück, weil Frau S. (Sophia) als Kind 4 Jahre deutsch in der polnischen Schule gehabt hatte, jedoch lag diese Zeit schon ca. 50 Jahre zurück. Während des Essens hatte ich angedeutet, dass ich nach Möglichkeit auch unsere Wohnung in der Breitenstr. 1 sehen wollte. Noch am Abend ging ich dann mit dem freundlichen Herrn S. (Richard) über die Breite Straße in Richtung Marktplatz, wo wir an unserem früheren Wohnhaus vorbeikamen. Es war noch sehr warm, die Haustür stand auf und Richard ging mit mir sogleich in das Haus und die Treppe hinauf zu unserer früheren Wohnung. Eine freundliche Familie mit 6 Kindern öffnete auf der rechten Seite im Obergeschoss die Wohnungstür und war mit Richard sehr gesprächig. Ich verstand zwar kaum etwas. Der Mann war Tischler und arbeitete wochenweise in Norwegen. 2 Kinder machten Schularbeiten, ein Sohn arbeitete an einem PC. Auf der oberen Etage (unsere frühere Wohnung) wohnen 4 Familien. Alle Räume sind in viele kleinere Zimmer unterteilt, so dass unsere frühere Wohnung in der ursprünglichen Form nicht wiederzuerkennen war. Der Aufgang (früher Holztreppe, die ich trotz des oberen Schutzgitters mehrmals als kleines Kind quer bis zu den Fahrrädern gerollt war) war jetzt aus Beton. Die polnischen Wohnungsinhaber luden uns bald zu einem Tee ein. Wir lehnten höflich ab und gingen dann am Schulhof (der Nussbaum steht noch) und unsrer Kirche vorbei. Das Eingangsportal vom Kirchturm sah sehr ehrwürdig aus. Neben dem Eingang waren Hinweise über die Baugeschichte der Kirche. Unser Weg führte uns weiter durch die kleine Kirchstraße, in der Jochen Klepper geboren ist, zum Markt. Es war schon etwas dunkel, so dass der prächtig mit Laternen und Erdstrahlern erleuchtete Markt auf mich einen gewaltigen Eindruck machte. Alle Fassaden der schlichten aber schönen Giebelhäuser waren gut hergerichtet und strahlten in dezenten bunten Farben. Ich sagte meinem polnischen Freund, der Markt sehe noch viel schöner aus, als ich in Erinnerung hatte, und er könnte wirklich mit dem Krakauer Altstadtmarkt konkurrieren. Es war ein wunderschöner, warmer Sommerabend, so dass wir auf dem Marktplatz ein großes Bier vor dem „Goldenen Löwen“ tranken.
Ich hatte im Hause der polnischen Gastgeber ein geräumiges Schlafzimmer, und nachdem wir im Haus noch viele interessante Einzelheiten aus früheren Zeiten ausgetauscht hatten (ich hatte leider nur wenige Fotos mit), schlief ich nach den vielen neuen aber positiven Eindrücken besser als in Hildesheim.

Für den nächsten Tag hatte sich Richard, der als Gerüstbauingenieur in Sprottau (?) tätig ist, einen Tag Urlaub genommen, um mir Beuthen und Umgebung ausführlich zu zeigen. Nach dem Frühstück überraschte mich Richard mit dem Besuch beim Bürgermeister im Rathaus. Richard selbst ist seit längerer Zeit Ratsmitglied. Alle Ratsmitglieder sind parteilos. Nachdem er mich im Rathaus dem verhältnismäßig jungen Bürgermeister vorgestellt hatte, überreichte mir der Bürgermeister als Gastgeschenk einen Bildband über Beuthen, Neusalz und den Ort Züllichau, der vor 1 Jahr aus Anlass der Errichtung von Oderschiffsanlegestellen an den genannten Städten herausgegeben worden war. Durch den Bau dieser Anlegestellen soll u.a. der Tourismus durch künftige Dampferfahrten zwischen diesen Orten gefördert werden. Ich war gerührt, machte sogleich ein Foto von den beiden Beuthener „Honoratioren“ und nahm mir vor, mich von zuhause aus nochmals schriftlich zu bedanken. Aus dem Bildband ist u.a. zu entnehmen, dass Beuthen im Jahre 2006 zweimal prämiert worden ist, und zwar als umweltfreundlichste Gemeinde (modernes Klärwerk) und bestbeleuchteste Stadt in Polen.

Die nächste Überraschung war das Besteigen des Rathausturmes, das uns der Bürgermeister ausnahmsweise erlaubt hatte. Bei strahlendem Sonnenschein hatten wir vom Turm aus eine herrliche Aussicht auf die Stadt, den Oderverlauf und das gesamte Umland, insbesondere Nenkersdorf. Danach fuhr mich Richard mit seinem VW-Golf in Richtung Nenkersdorf. Der Nenkersdorfer Schulweg (unser häufiger Spazierweg sonntags zu Tante Mummert) sowie der „Mummert-Weg“ (Zugang von der ansteigenden Straße zu Tante Mummerts Haus) sind leider nicht mehr vorhanden bzw. schlecht passierbar. Wir machten zunächst Halt beim Nenkersdorfer Kreuz. Danach ging es kurz zum ca. 200 m entfernt liegenden Oderstrand und anschließend in den Ort Nenkersdorf. Richard zeigte mir das bewohnte frühere Haus und Anwesen von der Familie Herbert Hoffmann. Dann wagte es R. doch, den völlig zugewachsenen Weg hinunter zu Tante Mummerts Grundstück zu fahren. Von dem Haus stehen nur noch Mauern. Weiter ging es mit dem Auto durch den ebenfalls zugewachsenen „Mummert-Weg“ zur Nenkersdorfer Straße und weiter in Richtung Glogau, Richards Lieblingsstadt, wo er einige Jahre zum Gymnasium gegangen war. Die Route führte uns über mehrere Dörfer nach Glogau, wobei wir an der modernisierten Kupferhütte vorbeikamen, die für viele Beuthener die wichtigste und größte Arbeitsmöglichkeit bedeutet. In Glogau, das während der Festungszeit zu 80% zerstört wurde, zeigte sich eine rege Bautätigkeit. Sodann führte uns die Besichtigungstour durch viele verschlafene kleine Orte mit mehreren alten Schlössern, u.a. Friedrichslager, Zöbelwitz (Schloss), Alteichen, Herrndorf, Großkauer, Wallfahrtsort Annaberg, Baunau (Schloss), Würbitz, Pfaffendorf, Malschwitz, Krolkwitz, und wir landeten schließlich in Neustädtel. Es war Mittagszeit, wir hatten Hunger und Durst, und so kauften wir einen frischen und guten Mohnkuchen, den wir teilten und zu einem Fruchtsaftgetränk auf einer Bank am Markt genossen. Nach kurzem Besuch der Kirche, die renoviert wird, ging es weiter auf der mit Katzenköpfen gepflasterten schmalen Straße nach Lindau. Ich musste sehr aufpassen, um das Anwesen von Tante Lenchen zu finden. Der Nussbaum im hinteren Hof stand noch, und der vordere Eingangshof war zu einem schönen Garten mit reichlich Blumen umfunktioniert. Landwirtschaft wurde dort wohl nicht mehr betrieben. Die Einladung einer jungen Polin, die Unkraut jätete, nahmen wir nicht an, weil es schon auf den Nachmittag zuging, wir noch nach Beitsch wollten (zeitweilige Wohnung von Herrn Ahr im Schloss) und das verspätete Mittagessen in Beuthen bei Sophia auf uns wartete. Nach Beitsch hatten wir früher wohl gelegentlich einen Sonntagsspaziergang gemacht, wo Herr Ahr (geboren und aufgewachsen in Nittritz) zeitweilig im Schloss wohnte. Da ich davon meinem polnischen Freund R. erzählt hatte, wollte er mir auch gerne Beitsch bzw. das frühere Schloss zeigen. Von Lindau aus kamen wir dann über Rehlau im Beitscher Schloss an, wo uns die dort wohnende Familie kurzer Hand zum Kaffee mit Keksen einlud. Die Frau der Familie ist eine Agrarökonomin und ebenfalls im Stadtrat von Beuthen. Leider habe ich von dem anregenden Gespräch fast nichts verstanden. Dann ging es „nach Hause“, wo uns Sophia gebrühten Buchweisen mit Fleischklops und Tomatensalat aus ihrem großen Gewächshaus im ebenfalls großen Garten, der etwas außerhalb liegt, auftischte, und alles schmeckte gut ohne nachträgliche Bauchschmerzen. Der Abend verging mit dem Erzählen verschiedener Erinnerungen vom früheren Beuthen, und R. zeigte mir viele verschiedene Schriftstücke aus alter Zeit, die er teilweise über das Internet erworben hatte. Es wurde mir klar, dass Richard die Beuthener Geschichte als sein großes Hobby pflegte. So eine Heimatpflege war für mich ein Zeichen, dass R. seine Heimat sehr liebte. Beuthen war für uns nach Flucht bzw. Vertreibung verloren, aber für die Polen wurde es ihre Heimat, da die meisten dort Lebenden geboren und aufgewachsen sind. Irgendwie ist es für mich beruhigend, dass dieses schöne Land an der Oder für andere wieder Heimat geworden ist.

Den nächsten Tag wollte ich allein und in aller Ruhe Beuthen und die mir bekannten Winkel und Ecken aufsuchen. Nach dem Frühstück ging ich um 8.00 Uhr zur hl. Messe und machte ein Foto von dem noch vorhandenen Taufbecken, in dem ich vor 76 Jahren getauft worden bin. Danach spazierte ich mit Proviant der Gastgeber und Rucksack zur Hennemühle. Unterwegs konnte man das überreife, heruntergefallene Obst probieren. Alles war so nahe, was man als Kind so weit empfunden hatte. Danach ging ich an dem früheren Gaswerk (jetzt abgerissen) vorbei zur Kretschmer-Mühle, an dessen kleinem Hang ich mehr oder weniger Skifahren gelernt hatte. Weiter darauf über die alte Promenade an Menzels Garten und dem Schulgarten vorbei zum Hafen, wo ab und zu größere Fische (wahrscheinlich Karpfen) herumsprangen. Der nächste Weg war der Markt, den ich bei Tage sehen wollte. Auch am Tage machte der Markt mit seinen schönen Häusern, dem Springbrunnen und dem Blumenschmuck einen prächtigen Eindruck. Auf einer Bank am Markt verspeiste ich bei strahlendem Sonnenschein (Kontinentalwetter) die Frühstücksbrote und die Tomaten, und ich konnte beobachten, wie sauber alles gehalten wurde: Eine ältere Frau machte die verblühten Teile der Hängegeranien vor dem Rathausaufgang ab, und ein Mann zog mit einem Karren und uraltem Besen über den Markt, um Papier und Ähnliches aufzukehren. Danach schlenderte ich in Richtung ehemaliger Oderbrücke (die längste der ganzen Oder) vorbei an Kaufmann Schmidt, bei dem wir fast alle Esssachen kauften, weil er katholisch war und unterstützt werden sollte. Bei dem gepflegten Kaufmannsladen Schulz um die Ecke von unserer Wohnung durften nur Kleinigkeiten gekauft werden oder Dinge, die wir bei Kaufmann Schmidt vergessen hatten zu kaufen. Bei der Odermühle angekommen versuchte ich, mich auf die andere Seite der Oder übersetzen zu lassen. Leider lag dort nur ein Boot ohne Fährmann. Danach ging ich auf dem Oderdamm bis etwa zur früheren Oderbadeanstalt, um dann den Schützenhausweg hoch bis zur Villa Garitz, die noch steht, zu wandern. Zwischendurch hatte ich auf dem Weg zum Friedhof wegen der neuen Durchgangsstraße etwas die Orientierung verloren, um dann doch über die Post, wo ich Zloty eintauschen wollte (war in ganz Beuthen nicht möglich) zum Friedhof zu gelangen. Dort stehen noch sehr viele alte Grabsteine, teilweise aus dem 17. Jahrhundert. Da es erst kurz vor 14.00 Uhr war und ich bis zum Mittag/Abendessen gegen 16.00 Uhr bei den „Gasteltern“ noch Zeit hatte, ging ich zum Bahnhof (Bahnhof und Bahnhofsstraße werden zurzeit erneuert), um noch nach Neusalz zu fahren und die Stadt etwas anzusehen sowie Zloty einzutauschen. Der Zug nach Neusalz kam in 10 Minuten, und der Geldumtausch in Neusalz war kein Problem, jedoch gefiel mir die Stadt selbst weniger, weil u.a. der gesamte Fernverkehr durch die Stadtmitte führt. Vor meiner Oberschule, in die ich die letzten 3 Jahre gegangen war, verweilte ich im gut ausgebauten Park und ließ mir ein großes Hefestück schmecken. In Beuthen mit dem Zug wieder zurückgekehrt, gab es wieder warmes Essen bei Sophia und Richard, und danach tauschten wir viele interessante Dinge aus früherer Zeit aus. Richard zeigte mir u. a. einen Brief von meiner Schwester Luzie und eine Urkunde aus dem Jahre 1925, die bei der Restaurierung eines Gedenksteines in der Wand des Apothekers Berndt am Markt zur Erinnerung an den Durchzug der Kosaken am 6.12.1622 eingemauert worden war. So verging der Abend wieder sehr schnell, und Richard bedauerte, dass ich aus Zeitgründen nicht Nittritz und etwa Bobernik aufgesucht hatte (er meinte: beim nächsten Mal).

Am nächsten Morgen (22.8.) brachten mich Sophia und Richard zum Beuthener Bahnhof und nach herzlichem Abschied fuhr ich über Grünberg, Frankfurt/Oder und Berlin wieder nach Hause und kam pünktlich gegen 17.30 Uhr in Hildesheim an.

Die so kurzfristig erfolgte Reise nach Beuthen war für mich ein großes Ereignis, und ich war erstaunt, wie viel man in so kurzer Zeit erleben konnte. Um alles Erlebte (das Wichtigste) noch mal Revue passieren zu lassen und anderen Interessierten davon etwas mitteilen zu können, beschloss ich, diese Aufzeichnungen zu machen, was ich hiermit getan habe (das Schreibmaschineschreiben fiel mir doch schon etwas schwer).

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