Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 5, Mai 2008

Alltag einer Adelsfamilie auf dem Rittergut im Kreis Glogau - Fortsetzung

von Prof. Dr. Ferdinand Urbanek

9) Welche Sportarten betrieben Sie? Neben Reiten noch andere? Welche standestypischen Gepflogenheiten waren für Sie von Bedeutung? Tanzte und musizierte man bei Ihnen auf dem Schloss? Welche kulturellen Impulse waren für Sie von erzieherischem Wert? War Ihr Leben ehe von einer <vita complativa> oder einer <vita activa> getragen?

F.v.A.: Unser Vater förderte das Reiten bei meinem Bruder mehr als bei mir, weil ich zu Pferde keine gute Figur abgab. Bücher fesselten mich stärker als der Pferderücken. Wir Kinder hatten ein Reck, einen Barren, einen Rundlauf, Fahrräder und im Garten Geräte plus Sandbett zum Hoch- und Weitsprung zur Verfügung. Dazu kam das Schwimmen in einem der verschiedenen Teiche, das im Sommer beinahe vom ersten bis zum letzten Sonnenschein eifrig wahrgenommen wurde. Mein Bruder besaß außerdem ein kleines Motorboot zu Oderfahrten. Besonders schön fanden wir das Schlittschuhlaufen auf den gefrorenen Hochwasserflächen um die Oder herum. Zur Bildung gehörte auch das frühzeitige Heranführen/Bekanntmachen mit Büchern zur Historie sowie mit Biographien aus unterschiedlichen Gebieten, heimatkundlichen Aufsätzen oder Berichten und nicht zuletzt das Zeitunglesen. Dadurch wurde das Interesse am Zeitgeschehen und an der Politik geweckt. Ich konnte schon leidlich lesen, bevor ich mit knapp sechs Jahren zur Schule kam. Kaum konnte ich die Zeitung in Händen halten, sollte ich meinem Vater stets einen Abschnitt aus dem Tagesblatt vorlesen. Wenn ich dabei vor unbekannten, oft lateinischen Worten stockte, wurde ich an das 24-bändige Lexikon zum Nachschlagen verwiesen. Fremdwörter in dieser Lektüre veranlassten meinen Vater mitunter, lateinische Sprichworte damit in Zusammenhang zu bringen und zu zitieren. Sie waren von mir langsam zu wiederholen und wurden dann erklärt. Allerdings behielt ich deren Inhalt und Wortlaut erst langsam durch den wiederholten Ablauf des Vorlesens . Aber im Laufe der Jahre beherrschte ich eine Fülle lateinischer Redewendungen, die ich bis heute bei gegebenen Anlässen gebrauche (Nulla res sine causa / mundus vult decipi / vox populi, vox Dei / non scholae, sed vitae discimus / ubi bene, ibi patria u. a.). Auch allgemeinbildende und religiöse Artikel (z. B. aus dem Kirchenblatt) dienten ausschnittsweise als Lesestoffe. Für Kinder und Jugendliche von heute mag diese Form von Pädagogik befremdlich oder bevormundend erscheinen das aber war bei uns nicht der Fall. Ich war stolz, ernst genommen und an die Geisteswelt der Erwachsenen herangeführt zu werden. Wissen erschloss sich mir schrittweise gelegentlich über mein altersbedingtes Fassungsvermögen hinausgehend. Aber trotzdem gab es außer Technik nichts, was mich nicht brennend interessiert hätte. Ich fühlte mich keineswegs überfordert und bemühte mich eifrig, den an mich gestellten Erwartungen, so gut ich konnte, gerecht zuwerden. Dabei spielten Disziplin und Selbstdisziplin eine bedeutende Rolle, ohne dass mir das damals bereits bewusst geworden wäre. Unser Familienleben war somit gleichermaßen durch eine <vita complativa> wie durch eine <vita activa> getragen, je nach den Umständen. Wieder bestimmte der christliche Glaube die Bemühung um eine ausgewogene Balance. Zu dieser Ausgewogenheit trug das bewusste Danken und das Tischgebet entscheidend bei, welches wiederum zu einem ausgewogenen menschlichen Miteinander führte (und führt) im privaten Bereich wie im Zusammenleben mit allen Menschen, also auch mit dem der Arbeiterfamilien. (Hier ist nach der Berechtigung des mitunter diffamierenden Ausdrucks Gutsherrenart zu fragen. Vertretern dieser karikierten Welt bin ich persönlich nie begegnet. Und wie paradox, wenn z. B. eine besonders schmackhafte Wurstsorte mit dem Slogan wirbt Nach Gutsherren- art ..)

10) Hatte man in Ihrer Familie engere oder lose Kontakte zum Stadtleben in Glogau? Waren Ihre Eltern, namentlich Ihr Vater, häufig in der Stadt und wenn ja, zu welchem Zweck? Besuchten Sie das städtische Mädchen-Lyzeum in Glogau oder hatten Sie und Ihre Geschwister einen Hauslehrer? Gab es überhaupt noch Hauslehrer in den Adelsfamilien auf dem Lande im Kreis Glogau? Waren Sie manchmal zu Theater-, Konzert- oder Vortragsabenden in der Stadt?

F.v.A.: Regelmäßige Fahrten meines Vaters nach Glogau waren schon wegen geschäftlicher Erledigungen erforderlich. Dazu gehörte zunächst der Besuch auf dem Landratsamt zwecks Informationen oder bürokratischer Erfordernisse. Vor allem aber waren bei der Landwirtschaftlichen Handelsgesellschaft die Preise für landwirtschaftliche Produkte und der jeweilige Bedarf zu verhandeln. Dazu wurden oft Fachgeschäfte aufgesucht, z B. ein Radiohändler, der dann nach Biegnitz kam und das Radio installierte oder reparierte, und vieles mehr. Weiter mussten Einkäufe fast aller Art in der Stadt getätigt werden, denn in unserem Ort gab es lediglich einen Kolonialwarenhändler, der in der ersten Zeit seine Einkäufe per Fahrrad (mit Rucksack) erledigte; später konnte das zweimal täglich fahrende Postauto benutzt werden. Dieser Einzelhändler war sehr gefällig und besorgte auf Wunsch erbetene Kleinigkeiten. Wenn wir im Plauwagen zur Stadt fuhren, erhielt der Kutscher verschiedene Aufträge. Zum anderen fuhren die Eltern in die Stadt, um persönliche Beziehungen mit bekannten Familien zu pflegen. Außerdem fuhr man besonders vor 1933 oft zu politischen Veranstaltungen, um einen persönlichen Eindruck von deren Repräsentanten und ihren Programmen zu gewinnen. Politisches, vaterländisches Interesse am Zeitgeschehen gehörte zum Selbstverständnis unseres Umfeldes. Durch die diesbezüglichen Gespräche meiner Eltern am Mittagstisch wuchsen wir Kinder auch in dieser Hinsicht ganz unproblematisch in die Welt der Erwachsenen hinein. Allerdings waren wir nicht befugt, uns ungefragt in diese Unterhaltungen einzumischen, zumal wir uns erst langsam die nötigen Kenntnisse und Voraussetzungen zum Mitreden erwarben. Ich besuchte das Städtische Andreas-Gryphius-Oberlyzeum in Glogau. Schon der Schulträger-Name des bedeutenden Glogauer Barockdichters bewirkte bei uns von der Sexta ab die Beschäftigung mit der Literatur und mit ihrem Glogauer Umfeld. Mit einigen Texten, namentlich den Gedichten unseres städtischen Dichters, wurden wir frühzeitig vertraut gemacht, zumal die Stadt ein eigenes, nach Gryphius benanntes Theater besaß. Auch in dieser Hinsicht ist anzumerken, dass sich die Aneignung heimatkundlicher Kenntnisse unproblematisch vollzog. Immer wurde uns im Elternhaus und auf der Schule der Anreiz in den Vordergrund gestellt, etwas über wichtige Glogauer Heimatgeschichte zu erfahren und stolz darauf zu sein. Hauslehrer gab es zu damaliger Zeit noch. Aber diverse Familien des Kreises gaben ihre Söhne in ein Internat. Sehr bekannt war die Ritterakademie in Liegnitz. Teils besuchten auch die Töchter Internate, z. B. in Heiligengrabe oder in Altenburg (so auch ich später). Die Mädcheninternate, Stift genannt, waren auf eine bewusst evangelische Erziehung ausgerichtet, auf Mut, Bescheidenheit, ja Demut. Anspruchshaltung, Aufbegehren und dergleichen waren uns daher unbekannt, fremd, es widersprach dem christlichen Leitbild. Die Internatserziehung stattete uns jedoch mit jener Glaubensstärke aus, die uns nach 1945 die notwendige Überlebenskraft und den erforderlichen Gleichmut verlieh. Zurück zum Kontakt mit der Stadt: Ja, Konzerte oder Vorträge wurden von den Eltern dort wahrgenommen, wir Kinder waren für Abendveranstaltungen noch zu jung. Wohl durften wir nachmittägliche Schülerveranstaltungen in der Stadt besuchen und wurden dazu hingebracht und abgeholt, oder wir durften bei Eltern von Klassenkameraden/-innen übernachten.

11) Welchen Einfluss hatte der Ortsgruppenleiter bzw. der örtliche Bauernführer der Nazis auf den Alltag in Ihrer Familie? Kam es zu Spannungen oder Irritationen mit den Nazis?

F.v.A.: Der Ortsgruppenleiter hatte im Dorf eine herausgehobene Stellung, der er sich bewusst war. Mein Vater aber bewahrte im Dorf seine für ihn selbstverständliche Unabhängigkeit. Der Kontakt mit dem Nazi beschränkte sich auf ein höfliches Grüßen, ohne dass die Hand zum Hitlergruß erhoben wurde. Diese Distanz hielt bis zum Januar 1945, als jener Herr auf dem Schloss erschien und meinen damals bereits schwer kriegsbeschädigten und geschwächten Vater mit Hinweis auf den Führerbefehl aufforderte, sein Gut umgehend mit dem Vertriebenen-Treck zu verlassen. Als mein Vater sich weigerte, drohte der Beauftragte des Führers mit der Pistole in der Hand...Es gab keinen Ausweg mehr, wir mussten uns dem Treck anschließen. Dieser passierte soeben noch die Oderbrücke bei Beuthen-Carolath, ehe sie zerstört wurde. Der Ortsgruppenleiter soll auf dem Weg in den Westen tragisch umgekommen sein.

12) Wie wirkten sich die kriegsbedingten Einschränkungen auf die Landarbeit und das Familienleben bei Ihnen aus? Kriegsgefangenen-Arbeiter, Lebensmittelknappheit, Stimmungslage in den letzten Kriegsjahren?

F.v.A.: Die kriegsbedingten Einschränkungen wirkten sich selbstverständlich stark auf die Landwirtschaft aus. Auch unser Gut erhielt Kriegsgefangene. Aber sie empfanden ihr Dasein durchaus als erträglich: Sie hatten einen geregelten Tageslauf, ausreichend zu essen, gute Unterkunft und waren dem direkten Kriegsgeschehen und dem Kampfeinsatz enthoben. Das Verhältnis zu unseren Kriegsgefangenen, die in der Landwirtschaft eingesetzt wurden, weil die einheimischen Männer an der Front waren, kann durch folgendes Beispiel kurz angedeutet werden. Einem unserer ehemaligen französischen Kriegsgefangenen war der Name Jagwitz noch geläufig, als er ihn Jahre nach Kriegsende in einer landwirtschaftlichen Zeitung las. Er forschte sofort danach, wer das sein könnte. Es stellte sich heraus, dass es sich um meinen Bruder handelte, der, inzwischen Dr. agr., in der Rübensamenzucht tätig ist. Der Franzose knüpfte alsbald einen Kontakt mit meinem Bruder, woraus sich schnell gegenseitige freundliche Besuche ergaben. Erinnerungen verbanden beide Männer, so wehmütig und unterschiedlich sie auch waren da gab es keine negativen Zwischentöne. Pauschale Urteile über die Kriegsgefangenen-Behandlung in Deutschland stammen allzu oft von unkompetenten Köpfen. Weiter: Die politische Stimmungslage in unserem abgelegenen Ort war relativ unaufgeregt. Der dichte landwirtschaftliche Arbeitsrhythmus ließ ohnehin wenig Zeit für besondere offizielle Betätigungen. Jedoch gab es in unserer Familie nach dem 20.Juli 1944 ein gravierendes Ereignis: Zwei Gestapo-Beamte erschienen mit einem Auto in Biegnitz und verhafteten unseren Vater, um ihn nach Glogau abzutransportieren. Doch bevor es soweit kam, wurde ihnen zunächst von unserem Vater die Zufahrt auf den Hof mit den Worten verweigert: Meinen Hof betreten Sie nicht, außerdem will ich mich noch von meiner Frau verabschieden. Darauf waren die beiden Leute nicht gefasst. Energisch erklärten sie, das ginge nicht, er sei festgenommen. Unser Vater entgegnete, indem er sie dabei fest anblickte und rückwärts gewandt auf das Schloss zustrebte: Bei meinem Ehrenwort, in 10 Minuten bin ich zurück. Die beiden Gestapos waren perplex, sie rührten sich nicht von der Stelle, als unser Vater ihnen zurief: Ich bin preußisch-königlicher Offizier gewesen... Absichtlich war er rückwärts gegangen, denn er rechnete mit einem tödlichen Schuss und wollte die Beschuldigung vermeiden, er sei vor den beiden Männern feige auf der Flucht erschossen worden. Er wurde dann in die Stadt verschleppt und musste in einem Massenquartier erhebliche Drangsale durchstehen.

13) Beteiligten Sie sich in den Schulferien während des Krieges an irgendeiner Art von Landarbeit ? Können Sie z. B. Kühe melken? Waren Sie in der Gartenarbeit um Ihren Besitz herum beschäftigt oder in sonst einer Tätigkeit?

F.v.A.: Die Schulferien meiner Kindheit, bis zum Beginn des Universitäts-Studiums in Breslau, waren - neben dem normalen Tagesablauf im Kreis der Familie in erster Linie erfüllt vom Durchstreifen und wachen Erleben der Natur. Mit ihr waren wir Kinder aufs engste verbunden. Sie war für uns wie ein aufgeschlagenes Buch, denn sie hielt bei Wind und Wetter neue Erkenntnisse zur Erkundung bereit. Wir erlebten die jahreszeitlich bedingten Unterschiede der Vegetation; das Gedeihen von Getreide, Futter, Kartoffeln und Rüben wurde genau verfolgt. Daneben galten Sonne, Mond und Sternen unsere wache Aufmerksamkeit (ich besaß z. B. eine bewegliche Sternenkarte). Namentlich der Mond wurde als wetterbestimmend erfahren. Nein, Arbeiten wie Kühemelken habe ich nicht gelernt, brauchte sie folglich nicht zu verrichten. Eine Pflicht zur allgemeinen Gartenarbeit hatten wir nicht. Aber wir bestellten und bearbeiteten, jeder von uns Kindern, ein großes Beet nach eigener Vorliebe. Zum Ende des Krieges Herbst 1944 ich war bereits Studentin wurden alle, jung und alt, zum Schippen für das Unternehmen Barthold verpflichtet. Tiefe Gräben, mitten durch Landschaft und Felder, sollten das Vordringen der feindlichen Panzer verhindern. Dieses irrsinnige Vorhaben kostete Kräfte und Material, verursachte Schäden im Gelände und blieb schließlich unvollendet und ohnehin wirkungslos.

14) Von welchem Zeitpunkt an wurde die kriegsbedingte Lage für Ihre Familie bedrohlich? Ab wann bereitete man sich auf die Flucht vor? Wann genau und unter welchen Umständen brach man 1945 von Biegnitz nach dem Westen auf? Im Rahmen der Familie oder im dörflichen Treck ?

F.v.A.: Die persönliche Situation während der Nazizeit wurde bereits vor dem Kriege für manche Familien bedrohlich, was ich später durch ein Gespräch mitbekam, bei dem ich unversehens zur Mithörerin wurde und das meine ethische Sensibilität lebenslang wachgehalten hat, bis heute: Eines Tages nach dem Abendessen der Familie, als ich mich gerade an meine letzten Schularbeiten machen wollte, wurde meine Aufmerksamkeit durch deutliche Gesprächsfetzen aus dem Nachbarzimmer abgelenkt. Angestrengt konzentrierte ich mich auf vertraute Stimmen, besonders auf die meines Vaters: ...es geht nicht, ich habe einen Eid geschworen... Ehrenmann... Pflicht. Darauf lauter Ausruf eines anderen: Herr von Jagwitz, Sie haben eine Frau und vier Kinder! ....Können Sie das verantworten? Alles wegen des Anstreichers (so wurde Hitler bei uns genannt; er war ja ein verhinderter Maler). Darauf wieder mein Vater: ..Nein, ich müsste ja den Eid zurückgeben, offen, bevor ich ihn breche.. Schweigen.. Offenbar hat er mit dieser Aussage Erschrecken ausgelöst...... Später wurde mir klar: Das Anliegen der Gäste war es gewesen, meinen Vater zur Mitarbeit im Widerstand gegen das Hitler-Regime zu gewinnen. Die von ihm erwartete Entscheidung stürzte ihn in einen tiefen Gewissenskonflikt: Organisierter, illegaler Widerstand unter Inkaufnahme von Mord oder stiller Widerstand, wo immer im gegebenen privaten Rahmen möglich? Es wurde deutlich: Jede Entscheidung würde in einem schweren Konflikt enden, der letztlich unauflösbar war. Und mir wurde bald klar: Jeder Einzelne muss Gott um Kraft für eine individuell zu verantwortende Entscheidung bitten, und zugleich um Gnade bei einer womöglich unausweichlichen Fehlentscheidung. Mich stürzte diese Einsicht mit einem Mal in die Erwachsenenwelt. Sie stand für mich im krassen Widerspruch zu dem bisherigen festgefügten Weltbild, das patriarchalisch geprägt war, ohne Unruhe stiftende Zweifel. Zum ersten Mal leuchtete mir durch diesen Vorfall die Bedeutung übergeordneter Verantwortung auf. Doch weiter: Als es im Herbst 1944 immer unausweichlicher wurde, dass der Krieg ein unseliges Ende nehmen würde, was unserem Vater - aus dem Russlandfeldzug als nicht mehr k.v. zurückgekehrt - schon lange klar war, begannen wir für die befürchtete Flucht zu packen. Das war gefährlich. Denn wer beim Packen heimlich beobachtet wurde, wurde sofort angezeigt (und musste mit Bestrafung rechnen), weil ihm/ihr der Glaube an den Endsieg fehlte. Wir hatten Koffer mit Winterkleidung per Express ganz ehrlich mit der Bahn verschicken wollen sie erreichten niemals ihr Ziel! Einige entbehrliche Möbel, vor allem Bettgestelle, konnten in Bayern ausgelagert werden, aber sie standen später in keinem Verhältnis zu dem, was wirklich gebraucht wurde und zu dem, was unwiederbringlich verloren war. Vom Ausmaß der Flucht und der Vertreibung hatte zu diesem Zeitpunkt wohl niemand eine Vorstellung. Ganz andere Güter hätten wir rechtzeitig in Sicherheit bringen sollen. Wie viel Kostbares ging für alle Ewigkeit verloren! Auch ich hätte anders disponieren sollen. Mein Vater ließ auf meinen Wunsch hin vom Stellmacher einen Bücherkoffer aus Holz anfertigen (Normale Koffer waren in Geschäften kaum zu kaufen und hätten zudem noch den Fluchtverdacht geschürt), so dass ich solche Bücher retten konnte, die mir damals wichtig schienen und die heute zum Teil nur einen beschränkten antiquarischen Wert aufweisen. An ein derart schreckliches Chaos, an all die bittere Not der Flucht mit all dem Mangel am Nötigsten, dazu die eisige Kälte jenes Winters, hatte damals ja niemand denken können. Das Dorf Biegnitz treckte mitsamt dem Gutstreck nach dem Westen.... bis auf einen behinderten Schuster und eine alleinstehende Schneiderin. Beide waren davon überzeugt, dass man ihnen nichts antun würde. Es sollte anders kommen, sie sind nie in den Westen gelangt.

15) Welche nennenswerten Erlebnisse und Erfahrungen auf der Flucht können Sie anführen? Möglichst auch Einzelheiten. Hatten Sie Verbindungen zu anderen Adelsfamilien weiter im Westen? Was half Ihnen, vielleicht mehr als dem Durchschnitt der Flüchtlinge und Vertriebenen, auf Ihrer Flucht? Spielten standeseigene Haltungen, Charaktereigenschaften wie Contenance, Führungsstil etc .dabei eine Rolle? Halfen derartige angeborene oder anerzogene charakterliche Feudalmerkmale in jener Notlage? Typus Gräfin von Dönhoff !

F.v.A.: Ich selbst habe die Flucht, das Verlassen der geliebten Heimat, nicht mitmachen müssen, weil ich seit Herbst 1944, nach Einstellung des Vorlesungs- und Seminarbetriebes der Universität Breslau, einen DRK-Lehrgang besuchte. Wir Studentinnen wurden eingezogen und auf einen Einsatz in einem motorisierten Lazarett vorbereitet, zunächst im Schwarzwald stationiert, dort mit wechselnden Standorten. Meine Eltern und meine jüngere Schwester mein Bruder war als Soldat in Frankreich flüchteten mit Zwischenstationen bis in die Nähe von Dresden. Sie fanden großzügige Aufnahme auf dem Gut einer Freundin der Familie. Ja, die Hoffnung, durch andere Familien aus ähnlichem Kreis Hilfe und erste Unterkunft zu erhalten, ergab sich von selbst. Sie ist ja auch naheliegend. Ich selbst fand im Spätherbst 1945 ein Dach über dem Kopf bei einer ehemaligen Kommilitonin in Bad Harzburg, nachdem ich aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft entlassen war. Das bedeutete buchstäblich eine Rettung vor der Obdachlosigkeit. Die Frage nach standeseigenen Haltungen etc. ist vermutlich durch die bisherigen Ausführungen beantwortet worden. Standhaftigkeit, stets Disziplin und Selbstbeherrschung zu wahren, immer zu größerer Verantwortung bereit zu sein als andere und in misslichen Lagen nicht einzuknicken , sondern zur persönlichen Verantwortung zu stehen, auch dann noch, wenn man zum Schluss allein dasteht, das sind einige von den Verhaltensweisen, die uns eingeprägt wurden. Sie wurzeln im christlichen Denken. Sie sind uns selbstverständlich geworden und gehören lebenslang zu uns, egal in welcher Situation wir uns befinden. Das beweist sich im herkömmlichen Lebensstil, das bewies sich ebenso auf der Flucht und im Ringen um eine neue Existenz sowie in der Zeit danach , als ein neuer, ein veränderter Anfang gelungen war. Sie sind wie ein Korsett, das Standfestigkeit verleiht, für das wir dankbar sind, gerade auch in Notlagen. Es darf nicht unerwähnt bleiben, das dies nicht allen und immer gelang oder gelingt, dieser Prägung zu entsprechen, aber sie war und bleibt unser Leitbild (unangefochten vom wechselnden oder schillernden Bild in den Medien)

16) Wie gestaltete sich der Neubeginn für Sie und für Ihre Familie nach Kriegsend ? Kamen Ihnen dabei Ihre feudalen Verbindungen sowie die oben erwähnten Adelsmerkmale zu- statten?

F.v.A.: Der Neuanfang nach 1945 erfolgte mit der Mitgift , von der hier wiederholt die Rede war und die eben nicht konkret-materiell greifbar ist, die aber Impulse zur Überlebenskraft und zu flexibler Initiative verleiht. Selbstmitleid findet keine Resonanz. Unerschrockenes Zupacken ist gefragt. Dadurch gewinnt man, ohne es je darauf abgesehen zu haben, Respekt und Souveränität bei anderen oder bei Mitarbeitern. Und Respekt wirkte damals wie ein Türöffner . Oft fielen mir gerade in diesen Aufbaujahren Goethes Zeilen ein: Nimmer sich beugen, kräftig sich zeigen, rufet die Arme der Götter herbei ! Zum ersten Geld, das ich in dieser Zeit verdiente, gehörte der Erlös aus dem Verkauf von Zusatz-Lebensmitteln, die ich nach dem Blutspenden erhalten hatte (ich, die stets als zu zart und dürr geneckt wurde, war dazu in der Lage). Bald danach begab ich mich auf die Suche nach Verdienstmöglichkeiten neben dem Studium. Das Glück war mir hold. Man empfahl mich weiter und stellte mir gute (nicht erbetene) Zeugnisse aus. Darin wurde auf Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Fleiß, Gewissenhaftigkeit, Vertrauenswürdigkeit etc. hingewiesen. Auf die mir ausgesprochenen mündlichen Belobigungen hatte ich nur die eine Erwiderung bereit: Das ist nicht mein Verdienst, dafür müssen Sie meinen Eltern danken! Diese Äußerung musste ich zu meinem Erstaunen dann meistens erklären. Auf eine der besagten Empfehlungen hin lernte ich eine hoch gebildete, ältere kranke Jüdin kennen, mit der ich bald anregende Gespräche führte. Eines Tages übergab sie mir einen dicken Packen Schriftverkehr und Privatbriefe mit der Bitte, die Korrespondenz in ihrem Sinn zu erledigen. Da weder sie noch ich eine Schreibmaschine besaßen, machte ich mich daran, den Briefberg handschriftlich zu erledigen. Dafür erntete ich ihren Dank, dazu eine fürstliche Bezahlung. Diese menschlich reiche Begegnung mit einer Jüdin nach der Nazizeit ! werde ich nie vergessen.

17) Worin sehen Sie in der heutigen demokratisch fundierten Gesellschaftsstruktur nach wie vor adelsspezifische Aufgaben? Ihre achtungsgebietenden, ja bewunderungswürdigen Aktivitäten allein in den zahlreichen Hilfstransporten, die Sie seit Jahren zu den verbliebenen Deutschen in Oberschlesien unternommen haben, sprechen da ihre eigene Sprache.

F.v.A.: Die gegenwärtige Gesellschaft ist demokratisch aufgebaut. Aber auch sie kommt ohne (verpönte?) Leitbilder auf Dauer nicht aus. Leitbilder, die auf bestimmten Tugenden beruhen. So hielten auch die alten, demokratisch ausgerichteten Griechen an ihren Kardinaltugenden fest. Diese haben bis heute nichts an ihrer Bedeutung verloren. Daher ist auch eine Demokratie, schon um ihrer selbst willen, auf die Beachtung allgemeingültiger Leitbilder angewiesen, und das heißt: auf Tugenden, die sich über Jahrhunderte bewährt haben. Es kommt nur darauf an, diese Tugenden gegenwartsnah zu tradieren. Sie sind allgemein-verständlich zu formulieren, aber im Aussagegehalt unverfälscht weiterzugeben. Welche dieser Tugenden im einzelnen dabei auch für uns heute relevant sind, dürfte aus meinen Antworten zu einzelnen Fragen dieses Interviews, namentlich aus den beigefügten Beispielen, klar hervorgegangen sein. Daher gehört es nach wie vor zu den freiwilligen Pflichten aller Familien, die in einem solchen Leitbild eine notwendige ethische bzw. christliche Grundlage für einen demokratisch gut funktionierenden Staat erblicken, sich für die juristisch mögliche Realisierung einer derartigen Grundordnung einzusetzen. Diese ist zunächst verbal zu artikulieren und festzuschreiben. Eine prägende Wirkung für das Gemeinwesen jedoch erhalten noch so gut gemeinte Konzepte erst durch gelebte Vorbilder. Hier bleiben die eingangs erwähnten adelsspezifischen Aufgaben gültig, heute als ein Auftrag an alle verantwortungsbewussten Staatsbürger. Und diesem Auftrag wusste und weiß ich mich verpflichtet auf allen Arbeitsgebieten, auf denen ich zu tun hatte. Sei es im Beruf, sei es ehrenamtlich in Sachen Schlesien, wo ich meinen Landsleuten durch materielle Hilfe etwas Lebensmut bringen konnte, sei es hier in Frankfurt als Seniorenbeirätin, wo ich meinen Beitrag dafür zu leisten suche, dass Menschen ihr Alter in Würde leben dürfen.

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