Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 4, April 2006

Zwischen Skylla und Charybdis

Zwischen Flucht und Vertreibung

2. Fortsetzung und Schluss aus NGA 03/06

Teil 3

Die hautnah erfahrenen Ereignisse kurz vor und nach Kriegsende schildert 1946/'47 eine Glogauerin in Briefen, die sie ihrem Tagebuch anvertraut. Im Teil 1 und 2 werden die Lebensumstände, die Nöte und Ängste während der sehr unsicheren ersten Zeit der Besatzung durch die Sowjetarmee dramatisch geschildert. Vor allem wird die völlige Unsicherheit über das Schicksal der schlesischen Heimat in Erinnerung gerufen.

Im hier wiedergegebenen Schlussteil wird die Ungewissheit aus diesem ständigen Hin und Her deutlich. Die in Schlesien Verbliebenen oder nach der Flucht vor der Front dorthin Zurückgekehrten litten darunter bis zur Vertreibung aus ihrer Heimat. Am Wortlaut der Briefe wurde nichts geändert, auch nicht die damals gültige Rechtschreibung. Die Wiedergabe persönlicher Briefteile unterbleibt, siehe ::: . - r -

Roggenfelde, Ostern 1946 (Fortsetzung)

Nun will ich Dir wieder einmal von den Erlebnissen des Vorjahres berichten.

Im Dorf hatten die Russen viel Vieh, daß nun nach und nach über die Oder abgetrieben werden sollte. Natürlich mußten wir, als junge Mädel, auch mit Vieh treiben. Ruth war gerade 3 Wochen krank und nun mußte sie auch mit. Wir hatten die Schafe zu treiben. Wir liefen täglich 20 - 25 km in glühender Sonne und hatten viel Ärger mit den Tieren. In den Nächten quartierten wir im Freien. Ruth konnte schon am ersten Tag nicht mehr weiter und mußte auf dem Wagen fahren. Das war nach ihrer Krankheit ja nicht zu verwundern. Auf dem Heimweg wurden wir alle gefahren, so waren wir nach einer Woche wieder zurück.

Nun begann die Getreideernte. In viele Dörfer kamen russische Erntekommandos. Da war es wieder sehr unruhig. Fast täglich kamen Russen ins Dorf und plünderten. Als sie nun gar in der Nacht in unsere Nachbarschaft kamen und dort Frauen belästigten, mochten wir auch nicht mehr daheim schlafen. Wir übernachteten 14 Tage in einem Schuppen, nur einen Strohsack auf der Erde und ein Fenster darin, daß wir bei Gefahr gleich hinaus konnten. Als wir einmal vom Felde heimkamen, jagte uns auch ein Russe. So war die Zeit bis Oktober sehr unruhig. Aber dann wurde es besser. Bis Weihnachten war dann überhaupt die ruhigste Zeit. Wir gingen viele Wochen Kartoffeln lesen/und meinen Rücken spürte ich schon nicht mehr. Beim Dreschen war es dann wieder besser.

Roggenfelde, den 1. Mai 46

Obwohl heute kein Sonntag ist, haben wir Feiertag. Die Russen feiern den 1. und 2. Mai als Nationalfeiertag. Das Dominium ist mit Girlanden geschmückt und außerdem ist Tanz auch für die Deutschen. Die Russen sind zum Teil betrunken, aber die Frauen und Mädel tanzen untereinander. Wir waren zuerst auch da, denn alle Arbeitenden sollten ins Dominium kommen. Aber noch ehe der Tanz begann, gingen Ruth und ich wieder heim, denn Ruth ist krank. Sie hat bei der kleinsten Aufregung Herzanfälle. Ein Russe kam uns nach und wollte mit uns spazieren gehen, natürlich war er betrunken. Er wollte uns nicht loslassen, da klappte Ruth wieder zusammen. Nun war er doch erschrocken und ging los. Wir haben zu Hause erst eine Stunde geschlafen und nun geht es Ruth wieder besser.

::: Vorigen Sonntag kamen gar die Polen in die Schule tanzen. Da waren wir natürlich aufgeregt. Wir hatten die Türen zu unserem Zimmer abgeriegelt und blieben auf, damit wir, falls es gefährlich wurde, gleich durchs Fenster hinaus konnten, um Hilfe zu holen. Aber die Polen klopften nicht an unsere Türen und gingen um 22 Uhr nach Hause. Hoffentlich kommen sie heute abend nicht wieder, denn wer weiß, ob sie immer so anständig sind, und Ruth muß jetzt vor jeder Aufregung verschont bleiben. :::

Es sind jetzt verschiedene Briefe von über der Neiße an deutsche Dorfbewohner gekommen, und immer schreiben die Leute, daß der Hunger dort drüben sehr groß ist. Wir konnten uns bis jetzt noch immer satt essen. :::

Roggenfelde, den 26.5.46

::: Es ist gut, daß bei der vielen Arbeit die Zeit schnell vergeht. Denn die Arbeit nimmt kein Ende. Wir bauen uns im Garten etwas Gemüse und Kräuter an und wollen auch ins Feld Kartoffeln und Zuckerrüben stecken. Da gibt es zu graben und zu hacken und zu Jäten, daß die Mittagsstunden nicht ausreichen, sondern der Sonntag auch noch ausgefüllt wird. Holz muß auch gemacht werden und die Stopf- und Flickarbeit reißt überhaupt nie ab. Aber trotzdem muß ab und zu eine Stunde sein, in der man sich mit sich selbst beschäftigen kann. Wir haben vor der Vesper eine Stunde geschlafen, denn müde sind wir bei den langen Tagen und kurzen Nächten und der vielen körperlichen Arbeit immer. Dieses Jahr können wir ja am Tage mit Ruhe schlafen. Vorigen Sommer war das noch nicht möglich, da gerade am Sonntag immer fremde Russen das Dorf unsicher machten. Sonst hat sich aber an den politischen Verhältnissen gegenüber dem Vorjahre nichts geändert. Wir wissen noch immer nicht, ob wir noch einmal hinausgejagt werden, oder wieder zu Deutschland kommen. Wir sind auf alles gefaßt, denn welches das bessere Los ist, ist noch fraglich. Aber es kann noch lange dauern, ehe eine Entscheidung kommt. Die Verpflegung ist jetzt ganz gut. Wir bekommen vom Russen alle 5 Tage Zuteilung an Brot, Fleisch, Sauerkraut, Zucker, Nährmitteln oder Mehl, von den Kuhhaltern wöchentlich etwas Butter und täglich Magermilch, so daß wir bis jetzt keinen Hunger gelitten haben. Zucker haben wir voriges Jahr überhaupt keinen gehabt, aber als Nährwert ist er doch gut.

Ich warte jetzt alle Tage auf Post. Es kommt jetzt viel Post von über der Neiße, aber für mich war bis jetzt noch nie etwas dabei. Solange gar keine Post über die Neiße kam, war das leichter zu ertragen. Aber wenn ich jetzt so zusehen muß, wie die anderen Briefe empfangen, da wird mir doch manchmal schwer ums Herz. Ich habe schon vier mal nach Berlin an Hanna geschrieben, denn von allen anderen habe ich keine Anschrift. :::

Roggenfelde, den 16.6.46.

Immer knapper wird die Zeit, die ich für mich selbst habe. Ich muß sie mir direkt schon abstehlen. Heute ist Sonntag, und schon wieder sind wir für den Nachmittag ins Heu bestellt. Das geht jetzt jeden Sonntag so und in der Woche täglich 13 - 14 Stunden Arbeitszeit. Zum Schlafen bleiben uns noch 6 Stunden. Sachen reißen wir ab und wann flicken, neue gibt es doch überhaupt nicht. Ich habe hier das Leben manchmal ehrlich satt. Wie lange soll das noch so gehen? Es gehen jetzt viele Gerüchte und Parolen herum, daß die Deutschen alle über die Neiße müssen. Aus verschiedenen Gegenden sind sie schon weg. 30 kg Gepäck darf man sich mitnehmen. Nun, ich muß ehrlich sagen, wenn wir schon fort sollen, dann so bald wie möglich. Da habe ich nicht Lust, mich hier noch weiter zu plagen. Aber der Russe wird uns vor der Ernte nicht weglassen, denn er braucht uns zur Arbeit. Das ist jetzt eine komische Stimmung für uns, wir wissen nicht, ob wir die paar Rüben und Kartoffeln, die wir für uns angebaut haben, noch hacken sollen, ob wir im Garten noch etwas machen sollen, wenn wir dann doch alles im Stich lassen müssen, ist es schade um die Zeit.

Vorige Woche hatte ich eine große Freude. Ich bekam eine Karte von meiner Schwester Hanna, die jetzt in Berlin Tegel in einer Bäckerei ist. Nun weiß ich, daß sie alle noch leben, nur von Papa hat sie nichts erwähnt, will aber noch einen ausführlichen Brief schreiben, auf den ich nun mit Spannung warte.

Viele haben jetzt von ihren Männern Nachricht bekommen, die schon aus der Gefangenschaft entlassen sind. :::

Roggenfelde, den 3.7.46

::: Uns stehen augenblicklich große Umwälzungen bevor. Die Deutschen dieses Gebietes, die beim Polen arbeiten, sollen über die Neiße evakuiert werden. Wer beim Russen arbeitet kann hier bleiben oder muß sich freiwillig zum Fortmachen melden. Wir wollen auch mit fort. Ich habe es jetzt sehr satt hier, alle Tage die Dominiumarbeit zu leisten. Wir müssen tüchtig arbeiten und nie ist es genug, wir werden nur immer schikaniert. Sonntag wird auch meist gearbeitet. Wir sind bald nur noch Maschinen, denn für mich selbst gibt es keine Zeit. Wir sind jetzt über ein Jahr hier, und ich habe in der Zeit höchstens 2 Bücher gelesen, trotzdem ich genug hier habe.

Und was soll aus Ruth werden? Sie wird hier nie mehr gesund, sie muß in andere Verhältnisse kommen. Was sollen wir da noch hier? Fräulein B... bleibt hier. Sie kann die letzten Möbel hüten. Frau R... geht mit uns. Es ist nur schade, daß wir nicht genau wissen, wann es losgeht und wie sich die Reise überhaupt so gestalten wird. Wir haben noch viel Vorbereitungen zu treffen. Täglich kommen neue Parolen, da ist es gut, wenn man an keine glaubt, sonst wird man ganz verdreht.

Ich hoffe, daß in Deutschland eher eine Möglichkeit sein wird, sich eine neue Heimat zu gründen und langsam von vorn anzufangen. Gewiß ist es dort drüben auch schwer, denn Flüchtlinge sind überall übrig. Aber irgendwann und irgendwo müssen wir doch wieder anfangen können. :::

Alfeld, den 6.8.46.

Nun bin ich in Deutschland. Es ging doch alles schneller als wir es uns dachten. Am 15.7. nachmittags erfuhren wir, daß es am anderen Tag früh um 7 Uhr losgehen soll. Wir waren zuerst doch erschrocken, aber dann blieb uns nicht mehr viel Zeit zum Nachdenken, sondern wir hatten einzupacken. In der Nacht packten wir beim Schein eines Lichtstummels. Bei Tagesanbruch waren wir wieder auf und zogen mit unserem Handwagen zur Sammelstelle nach Friedrichsdorf. Der Weg war sehr beschwerlich, da er so ausgefahren und verwachsen war. Es war eine Schinderei. Wir atmeten auf, als wir an die Straße kamen, auf Wagen geladen wurden und nach Gramschütz fuhren und von dort weiter nach Glogau. Noch einmal sahen wir unsere Heimatstadt und der Anblick der Trümmer war grausig und düster. Noch am selben Abend fuhren wir im Viehwaggon eng zusammengedrängt bis nach Neusalz. Wir übernachteten in einem Schulhof. Am anderen Tag begann die Durchsuchung des Gepäckss und der Menschen. Abgenommen wurden Gold- und Silbersachen, neue Kleidungsstücke und Stoffe, Sparkassenbücher und Geld, wenn man mehr als 1000 RM hatte. Soviel Geld besitzen wir nicht mehr, neue Sachen auch nicht. Was wir noch an weniger wertvollem Schmuck besitzen, hatten wir im Kuchen eingebacken und die Sparkassenbücher in den Einkaufstaschen eingenäht. Also wurde uns bei der Kontrolle nichts weggenommen. Ruth und ich wurden noch am Körper abgefühlt, wahrscheinlich, weil wir so sehr viel anhatten. Geschwitzt haben wir ja tüchtig, aber es war die beste Art, die Sachen wegzubringen. Wir bekamen dort eine Suppe und wurden dann zu 36 Personen in Waggons verladen. Da ging es darin auszuhalten. Erst am anderen Tag fuhr der Zug ab. In Kohlfurt wurde der Transport vom Engländer übernommen. Wir mußten zur Entlausung. Auch etwas Verpflegung gab es wieder. Und dann ging es über die Neiße.

Es war ein eigenartiges Gefühl, als wir das Flüßchen überfuhren, das jetzt so eine Bedeutung bekommen hat. Nun waren wir also in Deutschland. Es ging nun verhältnismäßig schnell über Hoyerswerda, Wittenberg, Magdeburg, Celle nach Uelzen. Dort wurden wir untersucht, entlaust und bekamen Verpflegung. Am anderen Tag, es war Sonntag (21.7.46) fuhren wir in Personenwagen nach unserem Bestimmungsort Alfeld. Hier ging es erst wieder ins Massenlager. Von dort aus bekamen wir beide, Ruth und ich, ein Zimmer, durch das 2 Parteien dauernd durch mußten, so daß wir nicht eine Stunde allein waren. Das gefiel uns gar nicht. Nach viel Lauferei besorgten wir uns selbst ein kleines Zimmer etwas außerhalb der Stadt. Hier sind wir nun ganz zufrieden. Mit den Leuten ist gut auszukommen. Wir haben unsere Ruhe und können uns erst einmal langsam erholen und wieder Menschen werden. Alfeld hat vom Krieg überhaupt nichts gespürt. Die Stadt ist unversehrt. Daher fehlt bei vielen Leuten das Verständnis für die Flüchtlinge. Die Ernährung ist hier schwierig, 2 kg Kartoffeln, 1,1/2 kg Brot, 50 g Fett, 150 g Fleisch für die Woche. Nährmittel und Gemüse sind reichlich, so daß es bei guter Einteilung noch zum Sattessen reicht.

Wie es hier mit Arbeitsmöglichkeiten werden wird, ist noch fraglich. Vorläufig sind wir bis 1.9. zurückgestellt.

Wir sind jedenfalls sehr froh, daß wir mit Russen und Polen nichts mehr zu tun haben. Nun warte ich auf Post, um Verbindung mit meinen Angehörigen zu bekommen. :::

Alfeld, den 15.8.46

::: Wir haben den Krieg verloren und damit die Heimat und Existenz. Nichts ist mehr von dem Zukunftsbild übrig geblieben und grau und schwer liegt das, was da kommen soll vor uns. ::: Wie oft war es im vergangenen Jahr so, daß ich mich fragen mußte, lohnt das Leben überhaupt noch, hat es noch einen Sinn, diesen Krampf weiter mitzumachen? :::

Alfeld, den 30.9.46

Im Trubel des Alltags vergehen die Wochen wie im Fluge, und ich sehe mit Staunen, wielange ich schon nicht mehr meine Gedanken aufgeschrieben habe. :::

Das jetzige Leben ist nicht so einfach. Da muß man immerfort laufen, nach Bezugsscheinen, nach Anträgen, zum Klempner, nach Gemüse, dann wieder aufs Feld Kartoffeln buddeln, Holz sammeln, Hagebutten pflücken. Die Tage reichen noch nicht aus, wenn man sich ein bißchen für den Winter heranschaffen will. Es wird überhaupt nicht so ganz einfach sein, diesen Winter zu überstehen mit so knapper Feuerung und so wenig Nahrungsmitteln. Aber es ist schon viel Schweres gegangen, da wird auch der Winter durchzuhalten sein.

Unser Leben hat sich auch insofern etwas geändert, daß ich seit 9.9. arbeiten gehe. Und wohin? In die Fabrik! Als Lehrerin anzukommen ist aussichtslos. Bürostellen sind auch keine zu haben. Etwas Geld verdienen muß ich aber, denn ich kann ja nicht den letzten Pfennig verbrauchen und dann erst etwas beginnen. Also blieb mir nur die Fabrik. Es ist gut, daß es im Leben ein „Muß" gibt. Da findet man sich auch darein. Die Arbeit geht im Akkord. Aber ich habe mich schon ganz gut eingerichtet. Ich verrichte meine einförmige Arbeit, habe tausend Gedanken aus Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Es sagt mir niemand ein böses Wort. Um meine Mitarbeiterinnen kümmere ich mich sehr wenig. Es ist keine dabei, der ich mich irgendwie anschließen könnte, denn ich will das auch gar nicht, denn ich habe ja Ruth. Immerhin ist die Arbeit wesentlich besser als beim Russen. Wir arbeiten 8 Stunden am Tag, Sonnabend und Sonntag gar nicht. Der Verdienst ist ja mit meinem ehemaligen nicht zu vergleichen. Aber schließlich ist ja mein ganzes jetziges Leben nicht mit ehemals zu vergleichen. :::

Ruth hat jetzt Nachricht über ihren Herzliebsten bekommen und den ersten Brief an ihn abschicken können. Sie ist überglücklich und ich mit ihr. :::

Alfeld, den 31.10.46

::: Im Augenblick bin ich überhaupt sehr durcheinander. Da werden zum April 1947 Volksschullehrer ausgebildet, wozu ich mich nach den Bedingungen evtl. bewerben könnte. Die Ausbildung dauert 2 Jahre und ist natürlich mit Schwierigkeiten in geldlicher Hinsicht verbunden. Ich würde das jedoch alles in Kauf nehmen, da ich sehr gern wieder in diesen, mir so lieb gewordenen Beruf möchte. ::: Mit unserer Wohnung klappt es auch nicht. Wir dürfen unseren Ofen nicht anschließen, weil wir ausziehen sollen. Aber bis jetzt hat das Wohnungsamt noch nicht entschieden. Wir sitzen schon wochenlang im kalten Zimmer und frieren den ganzen Tag. Kleinliche Alltagssorgen! Aber sie lassen auch die anderen Sorgen viel schwerer erscheinen.

Als einzigen Lichtpunkt in meinem augenblicklichen Dasein sehe ich meine geplante Reise in die russ. Zone zu meinen Eltern. Natürlich ist ja heute alles mit Schwierigkeiten verbunden, und der Grenzübergang macht mir einiges Kopfzerbrechen. Aber es wird schon alles gehen. Am 11.11. soll es losgehen. Ich freue mich schon, meine Eltern, besonders meinen Vater, wiederzusehen. ::::

Alfeld, den 6.12.46

::: Jetzt in der Weihnachtszeit sind meine Gedanken viel in der Vergangenheit. Sonst ist uns eigentlich noch gar nicht weihnachtlich zumute. Wir haben den Kopf voll mit Sorgen um Winterkartoffeln und Sirup kochen. Für Weihnachtsarbeiten fehlt es vor allen Dingen an Material. Heute stößt man eben bei jeder Sache auf Schwierigkeiten. Was früher das Einfachste von der Welt war ist heute ein Problem.

Vorige Woche bin ich von meiner Reise zurückgekehrt. Die Zeit bei den Eltern war sehr schön, aber sonst ist das Reisen jetzt kein Vergnügen. Da ich von Ruth noch Sachen holte, mußte ich bis an die Neiße fahren und war tagelang unterwegs. Die Züge sind kalt, zum Teil ohne Scheiben und voll, so daß man nicht mitkommt. Der Grenzübergang war auf der Hinfahrt ziemlich einfach. Allerdings nahm uns in Ellrich die deutsche Polizei je 42 RM Strafe ab. Ist das nicht eine Schande, wenn Deutsche das in ihrem eigenen Vaterland machen?

Auf der Rückreise war auch strenge russische Kontrolle, so daß wir auf schlüpfrigen Pfaden hoch über die Berge klettern mußten. Aber so sind wir sicher hinübergekommen.

Ruth hatte hier inzwischen viel Ärger und ist auch allein umgezogen. Nun haben wir wenigstens eine warme Stube. Ich finde, um innerlich warm zu werden, muß man auch von außen warm sein. :::

Alfeld, den 27.12.46

Nun sind die Weihnachtstage vorüber. Es war das zweite Weihnachtsfest seit dem Zusammenbruch. :::

In der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr arbeiten wir nicht. Es ist auch mal schön, so ein paar Feiertage zu haben, die Zeit wird noch viel zu kurz sein. :::

Alfeld, den 5.2.47

.:: Denn hart ist unser Leben. Wir müssen uns durch diese Zeit hindurchringen. Täglich steht die Sorge um Feuerung und Essen neben uns und vielleicht kommt auch bald noch die Sorge um Geld hinzu. Infolge Kohlenmangels arbeiten die Fabriken nicht, und ich bekomme nur Unterstützung. So bin ich jeden Tag mit Ruth auf Suche nach Holz. Am Nachmittag müssen wir dann erfrorene Mohrrüben, die es zu kaufen gibt, zurecht machen, um etwas zu essen zu haben. Trotzdem sind wir uns bewußt, daß unser jetziges Leben mit dem in Roggenfelde gar nicht zu vergleichen ist und sind froh, von dort weg zu sein. :::

Ende der Briefe im Tagebuch

Anmerkungen über die Zeit danach:

Wie durch ein Wunder erschloss sich der Briefschreiberin nach dem in Schlesien glimpflich überstandenem Horrorgeschehen zwischen Flucht und Vertreibung aus der Heimat ab Mitte 1946 im Westen der Weg zu einem menschenwürdigen Leben. Der Fabrikarbeit in Alfeld - Riemen an Holzsohlen im Akkord nageln - folgte bald die Arbeit im Büro als Stenotypistin, wenig später als Sekretärin. Die Wohn- und Ernährungsverhältnisse verbesserten sich sukzessive.

Ruths Bruder fand nach der Entlassung aus amerikanischer Gefangenschaft im September 1946 seine Mutter und Schwester in Alfeld, dort sofort Arbeit in seinem erlernten Handwerk, und er fand bei beiden seine spätere Frau, die Tagebuch-Briefschreiberin. Durch mehrjährige, lukrative Heimarbeit konnte er sein Studium finanzieren. Nach dem Studienabschluss nutzte er Anfangsstellungen in denen er nacheinander in Hamburg, Hessen und Niedersachsen Erfahrungen sammeln konnte.

Der Eheschließung folgten von '53 - '69 die Geburten von sechs Kindern und später von fünf Enkelkindern. Dieses Familienglück, ein idealer Beruf mit freien Gestaltungsmöglichkeiten, 11 Jahre in Westfalen und 22 Jahre in der Region Hannover, ohne materielle Sorgen lässt beide den verdienten Ruhestand genießen. Den Lebensweg der Briefschreiberin kennzeichnen somit drei Phasen: 1. Eine unbeschwerte Kindheit in Glogau. 2. Die Schrecknisse zwischen Flucht und Vertreibung. 3. Ein reich erfülltes Leben danach. Oder (zu?) prosaisch ausgedrückt:

Vom Vorgarten Eden durch Skylla und Charybdis

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