Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 11, November 2005

Porträt einer Schule

von Wilfried Ackermann


Rückfront der Oberrealschule mit Eingang vom Hof aus, Foto: W. Ackermann, 1998

Dämmerstunde. Draußen legt sich der kühle, windige Herbsttag langsam zur Ruhe. Ich habe die Heizung angestellt und sitze im milden Schein einer Stehlampe in meinem bequemen Lieblingssessel. Auf den Knien ein Fotoalbum. Ich betrachte wieder einmal die Bilder von Glogau. Da ist die Oberrealschule am König-Friedrich-Platz: die Vorderfront, der rückwärtige Eingang (Aus unerfindlichen Gründen durften wir immer nur den benutzen!), der Treppenaufgang, der Gang im ersten Stock.....

Bei meinem letzten Besuch in der zerstörten Stadt bin ich in das Gebäude gegangen, das einmal im Volksmund die ‚Rote Penne’ genannt wurde. Es war Nachmittag. Der Unterricht war längst beendet, und die polnischen Schüler waren nach Hause gegangen. Ich stieg die breite Steintreppe hinauf in den ersten Stock. Leer, alles leer ...und fremd. - Welch Trostlosigkeit!

Ich starre noch immer versonnen auf das Foto vom Gang in unserer Penne. Und plötzlich öffnen sich für mich die Türen. Die Schüler strömen aus ihren Klassenzimmern. In Zweierreihen marschieren sie in die Aula. Und wie fast jeden Tag, so auch heute, kommen einige zu spät. Sie hetzen die Steintreppe hinauf, und ihre Gesichter sind vor Anstrengung so rot wie ihre Mützen. Denn noch tragen sie die Schülermützen, die jedoch bald im Einheitsbrei der braunen Köche verschwinden müssen. Gerade noch rechtzeitig erreichen sie die Aula. - Ach ja! Heute ist ja Montag, und die Woche beginnt - wenn auch nicht mehr lange - stets mit der Morgenandacht.

„Komm mal her, Jungchen", höre ich eine Stimme. „Grinch' nicht so frech!" sagt der Direx zu einem Schüler. Er langt ihm unters Kinn, bringt sein Gesicht in die richtige Stellung und: „Wupp, da hacht du eine!" Das ist der für die Sextaner wie der Göttervater Zeus über allem schwebende ,Wuppchen’, wie er leibt und lebt. Im Ersten Weltkrieg war er verschüttet worden und hatte sich dabei die halbe Zunge abgebissen. Dem Kaiser ist er treu geblieben. So feiern wir noch immer den ,Tag von Sedan’*, wozu der Sub, als einstiger Militärtrompeter, vom Balkon der Aula ‚Ich hatt' einen Kameraden’ bläst. Der ‚Tag von Sedan’ sollte bald durch das ‚Gedenken an den Marsch zur Feldherrnhalle’ abgelöst werden. Da würden schon Wörmann und danach Könnemann die Direktoren sein. Aber der Hausmeister würde noch immer sein Trompetensolo blasen.

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Südlicher Treppenaufgang, Foto: Hans-Siegmund v. Gimborn, 1991

Inzwischen sind alle Schüler wieder in ihren Klassenzimmern verschwunden. Mir ist, als schwebe ich durch die Räume. In der Untersekunda steht der ‚Kö’ vor der Klasse; groß, schlank, elegant, in grauem Anzug, mit weißem, vollem Haar. Sein Lieblingsthema, wenn er Geographie gibt: Mittel- und Südamerika. Er versucht gerade, die Größe des Amazonas zu beschreiben. „Dagegen ist die Oder eine Pissrinne!" sagt er fast verächtlich und lässt dann genüsslich solche Namen wie ‚Popocatepetl’, ‚Mechiko’, ‚Chimborasso’ und ‚Titicacasee’ auf der Zunge zergehen.

Nebenan in der Unterprima lässt Studienrat Mau gerade eine Mathearbeit schreiben. Mit großem didaktischem Geschick hat er seine Schüler wieder ein Stück näher an mathematische Formeln und logische Zusammenhänge herangeführt. Nun sollen sie beweisen, was sie gelernt haben. Die Prüfung scheint sehr wichtig zu sein. Denn in der Ecke neben der Tür steht heute ein Tisch und auf dem Tisch ein Stuhl. Darauf thront Mau in seinen gewohnten Knickerbockers, strategisch gut platziert, den gesamten Raum in einem Blick, streng, gerecht, stets beherrscht, mit unbeweglichem Gesicht. Und konzentrierte Ruhe herrscht über der Klasse. Oh heilige - verfluchte Mathematik!

Anders der ‚Seppel’ in der Untertertia. Verzweifelt versucht er im Französisch-Unterricht der Klasse den Gebrauch des Konjunktivs im Konditionalsatz zu erklären. Eben zitiert er seinen - für ihn so typischen - Lieblingssatz: „Wenn meine Tante Räder hätte, wäre sie ein Omnibus. Im Französischen also: Si ma tante..... Na, und wer macht weiter?" Eisiges Schweigen. Und wieder einmal ist der ‚Seppel’ entsetzt über die mangelnden Kenntnisse seiner Schüler. Ein wenig bärbeißig, urwüchsig, mit rauer Schale, aber weichem Kern schimpft er: „Lieber Steine klopfen; da weiß man abends, was man gemacht hat!" Dann ergänzt er selber: „Si ma tante avait des roues, elle serait un bus. Der Franzose sagt nämlich: wenn sie Räder hatte..hatte... Imperfekt! Nicht aurait, also nicht haben würde. Nur der Hauptsatz steht im Konjunktiv: serait, also wäre sie...." Dann murmelt er resigniert etwas vor sich hin, was so klingt wie: „Aber das kapiert ja doch keiner von

euch." oder: „Na ja, die Quittung kriegt ihr Ostern**." Und mit einem schiefen Blick auf seinen eigenen Buben, links in der dritten Bank, urteilt er: „Dick, dumm, faul und gefräßig!"

Ich weiß schon: In der nächsten Stunde muss der ‚Seppel’ Turnen in der Sexta geben. Da steht er an der Sprunggrube in sportlicher Kleidung: Die Turnhose mit einer Sicherheitsnadel am Hemd befestigt, damit sie nicht über sein kleines Bäuchlein rutscht. Sport gibt er gar nicht gern. Das passt nicht recht zu seiner Behäbigkeit. Nur die Ruderriege und das Trockenrudern im Winter machen ihm wirklichen Spaß. Und wie die quirligen Sextaner jetzt so ungebärdig und lebhaft um ihn herumwuseln, stöhnt er: „Lieber einen Sack Flöhe hüten!"

Eigentlich müsste hier an seiner Stelle Turnlehrer Otto stehen, eher liebevoll als abschätzig und echt schlesisch ‚Ottel’ genannt. Aber der sitzt derweil gemütlich in der Obertertia und gibt evangelischen Religionsunterricht. Das heißt, den sollte er geben. Aber wieder einmal ist es einem gewitzten Schüler gelungen, ihn mit einer gezielten Frage vom Thema abzubringen, und nun erzählt er begeistert von seinen Kriegserlebnissen. Hurra, die Stunde ist gerettet!

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Gang im 1. Stock, Richtung Physiksaal Foto. Hans-Siegmund v. Gimborn, 1998

Auch der ‚Kö’ in der Untersekunda hat den Amazonas verlassen und ist beim Benehmen der Schüler im Allgemeinen und in dieser Klasse im Besonderen gelandet. Allein diese Tischsitten!!!! „Da sitzen sie am Tisch; Messer und Gabel in den Fäusten und dann wie die Wölfe mit den Vorderbeinen rinn in die Salatschüssel!" ruft er empört. „Das ist doch kein Benehmen!"

Oh, Herr Studienrat! Da sollten Sie jetzt gerade einmal in die Quarta schauen! Da bemüht sich Assessor Ksoll - genannt ‚Kuli’ -- vergeblich, den Schülern Latein beizubringen. Die aber spielen lieber mit einem Tennisball unter den Bänken Fußball. Plötzlich unterbrechen sie das Spiel. Was ist los? Ach ja, ich weiß: Dr. Ksoll zieht eben sehr geräuschvoll den Schleim hoch. Jetzt geht er in die Ecke, wo der Spucknapf steht, und die ganze Klasse ahmt seine Geräusche nach und spuckt mit ihm im Chor. Lieber Herr Assessor, bald werden wir Ihnen das abgewöhnt haben. Nun sage bloß nochmal jemand, die Schule wäre keine Erziehungsanstalt!

Schnell verlasse ich das unappetitliche Geschehen und schaue einmal in die Obersekunda. Dort steht der ‚Zahme’ und doziert über die mittelhochdeutsche Lautverschiebung. Hierzu liefert er zahlreiche Vergleiche aus dem pommerschen Dialekt, den er in seiner Studentenzeit kennen gelernt hat. Und während er mit viel geübtem Schwung die Brille von der Nase reißt und sie wippend in der Hand hält, sagt er: „Als ich noch in Greifswald war..." Er streicht sich dabei versonnen mit dem Zeigefinger der linken Hand an der Nase entlang, und die Klasse kann sich auf einen etwas längeren Sermon gefasst machen. Er handelt vom planmäßigen Studieren, dem täglichen Erholungsspaziergang, dem regelmäßigen und gesunden Essen, mieft ein wenig nach Pedanterie und endet mit Sicherheit bei Ratschlägen zur künftigen Partnerwahl und der Warnung: „Hüten Sie sich vor den Puppchengesichtern, meine Herren! Hinter hübschen Larven steckt oft nicht viel Geist." Ob er da aus eigener Erfahrung spricht???

Den Chemiesaal will ich noch besuchen. Er ist zwar den russischen Granaten zum Opfer gefallen, aber jetzt ist er noch da. ‚Papa’, der immer nur von „Kemie" spricht, steht hinter der langen Theke voller aufgeschlagener Bücher - zwar veraltet, aber das Rückgrat seines Unterrichts. Sein erster Satz zum Stundenbeginn: „Wer muss mich erinnern?" Ein von ihm ernannter Schüler springt auf, liest vor, wer Strafarbeiten abzuliefern hat und was ‚Pappa’ in der letzten Stunde verzapft hat. Dann ringt sich Dr. Grau durch, einen Versuch vorzuführen. Vorsichtig legt er ein Stückchen gelben Schwefel auf einen kleinen Eisenblock und schlägt mit einem Hämmerchen darauf. Stolz schaut er in die Klasse, weist auf das Ergebnis hin und diktiert in seinem unverkennbar fränkisch-bayerischen Dialekt: „Schreiben Sie! Versuch: Hammer, Amboss, Schwäfel. - Schwäfel ist spröte." Na, wenn das kein moderner Chemieunterricht ist!!

Leise muss ich lächeln, ein wenig ironisch, ein wenig wehmütig. Draußen hat jetzt die Nacht die Oberhand gewonnen. Ich atme tief auf und klappe das Album zu. Bei meinem Besuch in Glogau erschien mir damals die Schule so leer und fremd. Doch das stimmt ja gar nicht! Mag sein, dass ich manches überspitzt gezeichnet habe, und sicher ist das Bild lückenhaft und einseitig geblieben, aber eines kann ich wohl sagen: Unsere ‚Rote Penne’ lebt! Freunde, sie lebt! Und sie wird leben, solange wir leben - und vielleicht sogar auch noch ein bisschen darüber hinaus.

* Im deutsch franz. Krieg wurde am 2.9.18 70 die franz. Armee bei Sedan nach deren Niederlage zur Kapitulation gezwungen und Napoleon III. gefangen genommen.

**Damals (bis 1940) waren das Schuljahresende und damit die Versetzungen noch an Ostern.

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