Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 5, Mai 2004

Reise Rückwärts

Von Gisela Höppner, Berlin

Eine Familie aus Berlin unternimmt eine Reise nach Polen in die ehemalige niederschlesische Heimat der Mutter. Die Fahrt dorthin weckt die Erinnerung der Mutter an das Leben in ihrer Heimat, die Wirren des Krieges und die Flucht im Januar 1945 mit ihrem damals neugeborenen Kind. Die achtzigjähren Eltern zeigen nun der Tochter das Lazarett in der Stadt Glogau, in dem sie sich als Krankenschwester und Patient mitten im Krieg kennen lernten. Das Haus, in dem die Tochter geboren wurde, ist nach dem Beschuss niedergebrannt worden. Die Nachbarn, die im ehemaligen Großeltern-Haus wohnen, erzählen ihnen davon. Auf dieser „Reise rückwärts“ erleben die Eltern noch einmal die Ereignisse von damals nach. Die Tochter versucht, ihre Vorstellungen aus den Erzählungen der Familie mit den neuen Eindrücken zu vergleichen. Ein befreundetes Ehepaar aus Glogów begleitet die Familie auf ihrem Weg zurück und in die Gegenwart und ermöglicht Gespräche mit den heutigen Bewohnern. Auf diese Weise wird noch einmal das Schlesien der Vergangenheit sichtbar, aber auch das Polen der Gegenwart mit seinen Menschen, die nun gemeinsam mit den Deutschen auf dem Weg nach Europa sind.

„Reise rückwärts“

Vor zwei Stunden waren noch Obstbäume am Wegesrand zu sehen gewesen und Felder wie mit dem Lineal gezogen. Sie schienen nur darauf zu warten, von modernen landwirtschaftlichen Maschinen bearbeitet zu werden, um so bald wie möglich den gewünschten Ertrag zu bringen. Man sah dem Land an, dass hier nichts dem Zufall überlassen blieb. Gleich hinter der Grenze hatte sich das Bild total verändert. Verschwunden war eine Landschaft, die einem aufgeräumten Wohnzimmer glich. Hinter dem Fenster glitt eine unberührte Steppe vorbei, ab und zu hinderte der Qualm der Lokomotive den freien Blick nach draußen. Ihr schriller Ton, das stampfende Geräusch der Räder und das vorbeiziehende Land erweckten in Katja ein seltsames Gefühl, vertraut und fremd zugleich. Auf der Bank gegenüber saßen ihre Eltern. Mit weit geöffneten Augen blickten sie hinaus, als würden sie einen spannenden Film ansehen. Katja lächelte. Am Berliner Hauptbahnhof hatte ihre Mutter gleich dafür gesorgt, dass sie den Platz ,,vorwärts“ bekam und Katja sollte neben ihr sitzen, denn: ,,Dir wird doch genau so schlecht wie mir, wenn du rückwärts fährst“. Es war zwecklos, ihrer Mutter klar zu machen, dass die Unpässlichkeiten ihrer Kindheit nun, mit Mitte fünfzig, nachdem sie in ihrem Leben bereits einige Langstreckenflüge ohne nennenswerte Schwierigkeiten überwunden hatte, der Vergangenheit angehörten. Die Vergangenheit... Sie war der Grund ihrer gemeinsamen Reise. Durch Vermittlung von Freunden aus der ,,alten Heimat“ Schlesien hatten sie beschlossen, mit ihrer Tochter in die Vergangenheit zu reisen. Katja war im Winter 1945, noch kurz vor der Vertreibung durch die Russen, in dem kleinen, niederschlesischen Dorf geboren worden. Ein ,,Nostalgie-Zug“ der Eisenbahnfreunde sollte sie stilgerecht in die alte Zeit und in die frühere Heimat bringen So saßen sie nun zu dritt in einem dieser alten Bahnabteile auf harten, gelblichen Holzbänken und fuhren mit mäßigem Tempo ihrem Ziel entgegen. Am Bahnhof der Stadt Glogow, die früher Glogau hieß, sollte ein Dolmetscher warten und sie von dort aus in das Heimatdorf der Mutter fahren. „Nun seht euch nur diese Felder an! Die werden hier wohl überhaupt nie bestellt!“ Die Mutter war enttäuscht. In ihrer Jugend war sie mit dem Land verwachsen gewesen als Enkelkind eines schlesischen Bauern. Anders als Katja und der Vater, die waschechte Berliner und richtige Großstadtgewächse sind, betrachtete sie brachliegendes Land als reine Verschwendung. ,,Die Polen haben eine ganz andere Mentalität. Es sind Händler und Kaufleute, keine Bauern.“ ,,Weißt du noch, wie sie gleich nach der Wende in Berlin aus dem Potsdamer Platz einen riesigen Markt machten? Was wurde da nicht alles angeboten: Handarbeiten, Gänse, Wurst, Wodka, Ketten und Ringe aus Bernstein...“ Die Mutter winkte bei Katjas Bemerkung ab und der Vater kramte in der Jackentasche. Dann stand er auf, um das Abteil zu verlassen. Vorsichtig zog er die Abteiltür hinter sich zu. Auf dem Gang steckte er sich eine Zigarre an. Es war zu befürchten, dass Mutter und Tochter wieder einmal ins Diskutieren geraten würden. Auf das Wiedersehen mit den Orten, die er aus seiner Jugend kannte, freute er sich und war gespannt darauf, wie es nach so langer Zeit auf ihn wirken würde. Als junger Soldat hatte er sich in den russischen Sümpfen das Fieber zugezogen und war damit ins Lazarett eingeliefert worden, um sich bald darauf, inmitten anderer verwundeter Soldaten, in eine junge Rotkreuz-Schwester zu verlieben. Das Mädchen stammte aus einem Tausendseelendorf etwa zehn Kilometer von der Garnisonstadt Glogau entfernt. Für ihn war es bald wieder Zeit gewesen, an die Front nach Russland zu fahren. Aber schon beim nächsten Heimaturlaub wurde geheiratet. Er war in Gefreiten-Uniform erschienen und seine Braut hatte in dem geliehenen weißen Kleid ausgesehen wie eine Traumfigur aus den Revue-Filmen der UFA. Trotz der schwierigen Umstände hatte die Familie alle Köstlichkeiten zusammengetragen, die zu einer richtigen Hochzeit auf dem Dorf gehörten, von selbstgeschlachteten Kaninchen bis zu den großen Blechen schlesischen Streusel- und Mohnkuchens. Hannas Großvater hatte auf der beliebten Nudelsuppe als Vorspeise bestanden. ,,Ohne Naudelsupp isses gor keene richtige Huxst!“ hatte er gegrantelt. Der Zug fuhr mit lautem Quietschen und Zischen in den Bahnhof Glogow ein. Als sie nun mit ihren Reisetaschen auf dem Bahnsteig standen, wurden sie sofort von Jacek Kowalski begrüßt, der in den drei Personen schnell seine Kundschaft aus Berlin erkannte... Jacek war ein schlanker Mann um die Sechzig. Er steckte in einem langen, etwas altmodischen Mantel. Die Damen begrüßte er mit Handkuss, was Katja mit amüsiertem Lächeln und ihre Mutter mit Verlegenheit quittierten. ,,Willkommen in Glogau!“ Jacek benutze offenbar den deutschen Ortsnamen, um den Gästen eine Freude zu machen. Galant nahm er den Damen die Reisetaschen ab und ging voran. Über einen langen Gang erreichten sie den Ausgang des Bahnhofes, wo ein Auto undefinierbarer Herkunft auf die Familie wartete. Jacek klopfte lachend auf das Autodach. ,, Dieser Wagen ist eine Gemeinschaftsproduktion, halb deutsch, halb polnisch! Wie sagt man bei Ihnen: Marke Eigenbau?“ Katjas Mutter zögerte einen Augenblick mit dem Einsteigen. ,,Was ist? Haben Sie Angst, mitzufahren?“ ,,Nein, nein, lassen sie mich nur noch einen Moment noch dorthin..“ Sie deutete auf den Bahnhofseingang... Dann lief sie durch die weit geöffnete Tür und wandte sich zielsicher nach links, um in einem Nebenraum zu verschwinden. ,,Ja, genau hier ist es gewesen...“ Der Warteraum in Schwarztal gleicht einem Heerlager. Es herrscht ein unglaubliches Gewimmel von Soldaten, die auf dem Weg zur Front sind oder zurück von der Front kommen. Die Männer sind alle auf der Suche nach ihrer Einheit, die es vielleicht überhaupt nicht mehr gibt. Vor allen Dingen Flüchtlinge mit kleinen Kindern und alte, gebrechliche Leute irren scheinbar ziellos umher. Hanna drückt das Baby an sich, damit das Neugeborene nicht gestoßen wird. Sie kämpft ihre Schwäche nieder, fürchtet immer wieder, mit dem Kind im Arm zusammenzubrechen. ,,Komm uk, komm uk“, hört sie die Stimme ihrer Mutter. ,,Hier ist Platz!“ Hanna fällt auf die Knie. Ihre Mutter nimmt ihr das Kind aus den Armen. Das Baby wimmert leise wie ein kleiner Vogel. Hanna kommt wieder zu sich. Es wird Hunger haben. Sie knöpft den dicken Mantel auf und legt das Kind an die Brust. Die ganze Zeit bis hierher konnte sie ihm nicht ins Gesicht sehen, sie fühlt nur immer wieder, ob es in ihren Armen noch am Leben ist... Ab und zu hält sie ihre Hand an seine winzige Nase, um seinen Atemzug zu spüren. ,,Ich werd' sie schnell a mal trockenlegen, wer weiß, was nachher im Zuge los ist!“ Auf Tuchfühlung mit Hanna sitzt ein junger Soldat. ,,Von wegen Zug! Zwei Tage sitzen wir hier schon und warten auf einen Zug.“ Er sieht Hanna mitleidig an und deutet auf eine schwangere Frau, die eben schwerfällig hereinkommt. „Dieses Baby hat es gut, es ist noch sicher!“ Hanna blickt in Richtung der jungen Frau, deren Kopftuch verrutscht ist. Sie bewegt sich vorsichtig und umfasst schützend ihren Leib. Hanna erkennt ihre Schulfreundin Lina. Hanna versucht, sich mit dem Kind im Arm etwas aufzurichten, um Lina ein Zeichen zu geben. In diesem Moment kommt plötzlich Bewegung in die Menge. Die Stimmen werden lauter, das Schieben und Stoßen beginnt vom Ende der Halle in Richtung des Bahnsteiges. ,,Der Zug kommt! In die apathischen Gesichter und müden Körper kehrt das Leben zurück. Gleichzeit erfasst die Menge die gleiche Panik, wie sie auf einem sinkenden Schiff herrscht. Irgendwie wird Hanna mit dem Kind im Arm und ihre Mutter neben sich weitergetrieben. Sie halten einander fest, um nicht getrennt zu werden. Endlich ist der Bahnsteig erreicht, und es fährt ein vollkommen überfüllter Zug ein. Die Panik verwandelt sich jetzt in eine wilde Verbissenheit, und der Kampf um die Plätze im Abteil beginnt. Hanna und ihre Mutter gehören zu den Bevorzugten, die mit als erste in den Waggon geschoben und gezogen werden. Hanna weiß, dass sie das dem ,,Bündel“, das sie in ihrem Arm trägt, zu verdanken hat. Durch einen glücklichen Zufall ist auf einmal Lina da und hat sogar einen Kinderwagen dabei, obwohl ihr Kind noch gar nicht geboren ist. Für die kleine Katinka konnte man in der Pferdekutsche, die ein polnischer Fremdarbeiter mit Karacho zum Bahnhof kutschiert hatte, keinen Wagen für die Kleine mehr unterbringen. Kati wird nun in den Kinderwagen gelegt und Hanna ist froh, den kleinen Körper dadurch besser geschützt zu wissen. Auf der Strecke wird ständig hin und zurückgefahren. Hanna fühlt sich schwach und fiebert. Lina wimmert. Ihr Stöhnen wird immer lauter und schließlich setzen in Abständen die Wehen ein. Es hat keinen Zweck, Lina muss mit ihrer Mutter und dem Kinderwagen ausgeladen werden, als der Zug endlich nach Stunden Glogau erreicht hat. Hanna erlebt das alles mehr tot als lebendig, am Ende ihrer Kraft. Nun hält ihre Mutter, Katinka, das Bündel, in den Armen. Verzweifelt sieht die Mutter zu, wie Lina abtransportiert wird. „Naus, naus, wir müssen furt hier, meine Tochter braucht Hilfe!“ Hanna hört ihre Mutter schreien wie aus weiter Ferne, obwohl sie direkt neben ihr ist. Die Leute im Abteil, die für Lina schon Platz gemacht hatten, drängen sich nun noch einmal zusammen, um die zweite Mutter mit dem Kind und der Großmutter hinauszulassen. Hanna schlurft in den großen Filzschuhen ihres Vaters und dem viel zu langen, schweren Wintermantel ihres Mannes durch den Bahnhof. Sie folgt ihrer Mutter, die, mit dem Kind auf dem Arm, der Erste-Hilfe-Station zustrebt. Endlich liegt Hanna, mit dem Kind neben sich, auf einer Liege. Einige Frauen aus dem Dorf kommen herein, um Trinkflaschen für ihre Babys zu wärmen. Sie sehen Hanna entsetzt an, denn sie bietet einen erschreckenden Anblick... Ein Arm legte sich um Hanna. ,,Komm, lass uns zum Wagen gehen. Jacek kann vor dem Bahnhof nicht so lange halten“. Hanna nickte und hakte ihren Mann unter. Dabei taumelte sie für einen Moment. Werner bemerkte es, blieb stehen und hielt ihre Hand fest... ,,Es geht schon,“ sagte sie ungeduldig und schüttelte seine Hand ab. Sie wollte sich keinesfalls gleich am Anfang der Begegnung mit der schweren Vergangenheit eine Schwäche erlauben. Als sie im Wagen saßen, lotste Hanna Jacek zielsicher durch Glogau, vorbei an der Kaserne, die früher einmal das Lazarett war. Dort hatte Hanna als Rotkreuz-Schwester gearbeitet und den Patienten Werner kennen gelernt. In der Nähe lag das romantische Stadtwäldchen, in dem sie als verliebte junge Leute spazieren gegangen waren. Katja konnte sich nur wundern, wie genau ihre Mutter den Weg kannte und wie jugendlich sie auf einmal wirkte. Während Hanna Jacek ihre Anweisungen gab, verfiel sie auch in den schlesischen Dialekt. Der Wagen hatte Glogau verlassen und befand sich auf einer Landstraße nach Vorbrücken. Werner hatte die ganze Zeit aus dem Auto heraus gefilmt. ,,Ein Jammer, dass wir kein Stativ dabei haben“, sagte er und versuchte, den ,,Kamera-Arm“ irgendwie mit der anderen Hand abzustützen. Katja kannte aus den Erzählungen der Eltern die ganze Geschichte: das Leben im Dorf, die Begegnung ihrer Eltern, ihre Geburt, die Flucht vor den herannahenden Russen. Sie hatte eine bestimmt Vorstellung von ihrem Geburtsort. In der Phantasie sah sie genau das Dorf hinter der Neisse vor sich, in dem ihre Großeltern nach der Vertreibung hängen geblieben waren. Dort hatte sie viele Sommer ihrer Kindheit verbracht. Doch die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Dieses Dorf hier lag abseits der Straße, hinter den Feldern, die Häuser nicht so schnurgerade an der Chaussee aufgereiht wie in Katjas Vorstellung. Jacek rief unternehmungslustig: ,,Auf in euer altes Dorf!“ Katja gab ihrer Verwunderung Ausdruck, weshalb er nicht den aktuellen polnischen Namen verwandte. Jacek lächelte unter seinem Schnurrbart: ,,Ihr fahrt doch in eure frühere Heimat...“ Die sieben Kilometer von Glogau bis zum Dorf waren im Auto schnell zurückgelegt. Hanna wurde immer aufgeregter, denn sie näherten sich einer Kapelle am Wegesrand. Von dort bogen sie nach links in einen Feldweg ab, der direkt zum Dorf führte. Werner hörte für einen Moment auf zu filmen und drehte sich zu den Frauen auf dem Rücksitz um. ,,Weißt du noch?“ zwinkerte er Hanna zu. Der 3 km lange Weg vom Bahnhof bis in den Ort wurde damals immer zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt. Natürlich erinnerte sie sich an fast alles von damals, so als wäre es gestern gewesen. Hanna hatte ihren Verlobten und die Schwiegermutter aus Berlin vom Bahnhof in Schwarztal abgeholt. Zum ersten Mal sollte Werners Mutter die neue schlesische Familie kennen lernen. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, welche langen Strecken damals ganz selbstverständlich abgelaufen wurden. Der Weg bis zum Dorf war früher ein Wallfahrtsweg. Er führte zu einer katholischen Wallfahrtskirche in den Ort Hochkirch und wurde durch kleine und größere Kapellen und Herrgottswinkel begrenzt. Die kleine Wandergruppe lief im Gänsemarsch, allen voran die junge Verlobte als Wegweiserin. Als die letzte Kapelle erreicht war, drehte sich die Berliner Schwiegermutter in spe mit erschrecktem Gesicht zu ihrem Sohn um, deutete fragend auf das Kreuz. Davon hatte er nichts erzählt. Waren hier etwa alle katholisch? Wie sollte man sich da bloß verhalten? Eine Preußin aus Berlin kannte sich ja kaum mit der eigenen evangelischen Kirche aus, warum hatte der Junge ihr das nur verschwiegen? Aber Werner lachte unbekümmert und nickte ihr freundlich zu. Später hatten sie dann den Irrtum aufgeklärt und Elsbeth war heilfroh gewesen, dass die angeheiratete Familie ebenfalls evangelisch war und man sich irgendwelchen ,,Zirkus“ zur Hochzeit sparen konnte. Jaceks Auto hielt nun auf einem kleinen Weg zwischen einem Feld und einer großen Wiese mit angrenzenden Baumgruppen. ,,Das Erlicht!“ Hannas Augen leuchteten. ,, So sah es aus, bevor unser Haus gebaut wurde...“ Sie standen nun genau an der Stelle, wo Hannas Elternhaus einmal war. Es war bekannt, dass es als erstes Haus des Dorfes vollkommen zerstört worden war. Das Haus des Großvaters daneben gab es noch, aber allem Anschein nach lebte niemand mehr darin, es wirkte ziemlich heruntergekommen. Die Häuser im Umkreis standen noch wie früher, alt und verwittert in den Jahrzehnten, aber sie standen. Hanna hatte keine Mühe mit der Zuordnung: ,,Da ist das Höher-Haus, dort das Lorenz-Haus, da drüben das Haus vom Lehrer Sperling...“ Jacek schlug einen Spaziergang durchs Dorf vor, danach wollte er herausfinden, ob das Großvater-Haus tatsächlich unbewohnt war. Katja versuchte, sich ihre Mutter in dieser Umgebung vorzustellen. Sie verglich die alten Fotos in ihrem Kopf, auf denen ihre Mutter als Kind mit langen Zöpfen, als junge Braut, als Krankenschwester auf Urlaub, zu sehen war, mit dieser Ortschaft. Das Dorf war immer noch dicht besiedelt. Den Dorfweg säumten meist Bauernhöfe aus Vorkriegszeiten, dazwischen gab es aber auch einige Neubauten. Es war ein friedliches Dorf. Die Bewohner wirkten etwas scheu, grüßten aber freundlich, nur die Kinder waren neugierig und kamen näher heran. Gestört fühlten sich nur die Dorfhunde, die ihren Unmut mit lautem Bellen kundtaten. ,,Es gab eine Zeit, da durften Deutsche hier nicht einmal aus dem Auto steigen, ohne angefeindet zu werden.“ Jacek hatte den langen Mantel ausgezogen und trug ihn lose über den Schultern. ,,Hoffentlich sind wir alle bald einfach nur Europäer,“ meinte Katja. ,,Wo ist denn nur der Mühigraben geblieben?“ Hanna stand an einer Wegbiegung vor einem etwas zurückgelagerten Gehöft, vor dem ein kleiner Spielplatz mit einer Kinderschaukel und einem Buddelplatz angelegt war. ,,Hier war früher ein Graben, der so tief war, dass beinahe ein Kind darin ertrunken wäre... Aus den Erzählungen der Mutter wusste Katja, dass Hannas Bruder einen der kleinen Cousins im Kinderwagen einmal in diesen Graben gefahren hatte. Das Kind war herausgefallen und bereits unter Wasser, da hatte Hanna, die Sechsjährige, das Baby aufrecht hingesetzt und ihm damit das Leben gerettet. Nun war Hanna enttäuscht, diesen Graben überhaupt nicht mehr wiederzufinden. Katja dachte daran, dass in Berlin die Straße ihrer eigenen Kindheit heute auch nicht mehr wiederzuerkennen ist. In der Nachbarschaft haben sich inzwischen Türken angesiedelt mit eigenen Geschäften, einer Moschee und ihren Treffpunkten. Es ist alles bunt, interessant und fremdländisch, aber es erweckt kein Heimatgefühl mehr in Katja. Dies hier ist ein Dorf und man hatte es wohl aus Mangel an wirtschaftlichen Mitteln nicht abgerissen und neu aufgebaut. Aber was ist mit den früheren deutschen Städten wie Breslau oder Danzig geschehen? Ist es nicht den Polen hoch anzurechnen, dass sie alles im alten Stil wieder aufgebaut haben?

Fortsetzung folgt

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