Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 10, Oktober 2020

Kirmes im Kreise Glogau

Erntedank im Heimatkreis, Kulturgeschehen in der Heimatstadt

Nun wünschen wir dem Herrn viel Glück und schenken ihm den Kranz:
Es ist der Schnitter Meisterstück mehr wert als Goldes Glanz.

Das ist der Text eines jener Lieder und Sinnsprüche, die in Schlesien üblich waren beim Überreichen des Erntekranzes. Der Tanz um den Kranz beendete fast überall in unserer ländlichen Heimat die Ernte. Bevor wir auf Erntedank und auf die Kirmesfeiern in unserem Kreis Glogau zurückkommen, sei zuvor ein Rückblick getan auf die kulturellen Veranstaltungen und künstlerischen Ereignisse in Glogau selbst.

Oktober - Beginn des Winterhalbjahres

Kulturelle Veranstaltungen und künstlerische Ereignisse in Glogau

Der Oktober eröffnet das Winterhalbjahr, und mit ihm begann in unserem lieben Glogau eine lange Reihe bedeutender kultureller Veranstaltungen und künstlerischer Ereignisse. . . .
Zuvor aber gab es noch einige äußerlich glänzende Bilder: Auf der Oder das Abrudern des Ruder-Clubs Neptun, an dem sich auch die Schüler-Ruder-Riegen der Ober-Realschule, der beiden Gymnasien und des Oberlyzeums beteiligten, aber auch der Kanuklub und als effektvoller Schluss der Segelklub; auf dem Tennisplatz am Soetbeer-Ring das Herbst-Turnier des Tennisklubs; im Stadion und auf den Sportanlagen der Vereine leichtathletische Sportfeste . . .
In diese Zeit fiel auch das für viele Glogauer Mädchen und Jungen so bedeutsame persönliche Erleben,

die erste Tanzstunde,

die erste offizielle gesellschaftliche Fühlungnahme mit dem Partner oder der Partnerin des anderen Geschlechts, nicht selten mit den späteren Lebensgefährten.
. . . den man schon vorher bei einer der vielen kulturellen Veranstaltungen im Weißen Saale oder im Theater gesehen und vielleicht flüchtig kennengelernt hatte. Und damit sind wir wieder beim Hauptthema unserer Oktoberbetrachtung der Glogauer Zeit.

„Hochansehnliche Festversammlung! Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Jugend!" Welcher Glogauer und welche Glogauerin, heute in der Mitte des Lebens stehend oder schon in der zweiten Hälfte des Daseins, erinnert sich nicht mehr daran, besonders gekleidet und erwartungsvoll im Weißen Saale gesessen und jener stereotypen, aber stets warm vorgetragenen Anrede gelauscht zu haben, mit der Direktor H e r r i c h die Veranstaltungen des

„Das Stadttheater mit der alten Freitreppe“

Glogauer Gewerbevereins

eröffnete? Wenn auch der Glogauer Volksmund die Erweiterung dieses Vereins zu einer „Niederschlesischen Gesellschaft für geistiges, wirtschaftliches und koloniales Leben" mit dem ein wenig spöttischen „Langnamverein" bezeichnete, so genoss doch der geistig interessierte Glogauer der Zwischen-Weltkriegszeit wertvolle Stunden, die seine Allgemeinbildung wesentlich bereicherten, weil durch den Gewerbeverein dank der guten Verbindungen seines Vorsitzenden, Direktor Herrich, hervorragende Männer und Frauen der Wissenschaft aller Disziplinen und aller Gebiete nach Glogau kamen und im Weißen Saal volkstümliche Vorträge hielten.
Neben diesen wissenschaftlich-kulturellen Erlebnissen im Gewerbeverein wollen wir aber auch jener wertvollen künstlerischen Ereignisse gedenken, die der bekannte Glogauer Buchhändler Hellmann, ein äußerst kunstsinniger Mann, der die Musik über alles liebte, im Weißen Saale vorbereitete und durchführte. In diesem Zusammenhange sei weiter auf die großartigen und weit bekannten Leistungen unserer

Glogauer Singakademie

hingewiesen, mit der diese Vereinigung, Glogaus erste und älteste musikalische Kunstinstitution, das künstlerische und kulturelle Leben Glogaus befruchtete. Ihre bedeutenden öffentlichen Aufführungen waren immer so gut besucht, dass der Weiße Saal nicht ausgereicht hätte, um alle Zuhörer zu fassen, so dass diese Veranstaltungen meistens im großen Saal des evangelischen Gemeindehauses in der Gryphiusstraße stattfanden.
Der Straßenname erinnert an den Glogauer Kunsttempel, in dem in jedem Winterhalbjahr die meisten künstlerischen Ereignisse sich abspielten - im wörtlichsten Sinne: er erinnert an das

Glogauer Stadttheater

auf dem Marktplatz. Nannten wir oben die Glogauer Singakademie „Glogaus erste und älteste musikalische Kunstinstitution", so müssen wir das Glogauer Stadttheater als das absolut älteste Glogauer Kunstinstitut bezeichnen. Seine Geschichte reicht bis in die Zeit Friedrichs des Großen zurück, also mehr als zwei Jahrhunderte, seine Tradition aber, noch ein Jahrhundert weiter, bis auf Glogaus bekanntesten Sohn, Andreas Gryphius, der hier vor genau 404 Jahren, am 2. Oktober 1616, geboren wurde. Der Name Andreas Gryphius allein bürgt dafür, dass das Glogauer Theater schon zu seinen Lebzeiten der dramatischen Kunst ein würdiges Heim bot. Und später, wenn Friedrich der Große in Glogau weilte, wurden hier Melodramen gespielt, die in der damaligen Kunstwelt großen Beifall fanden. Friedrich Wilhelm III., der von 1797 bis 1840 regierte, empfahl seinem Minister Hoyen, sein besonderes Augenmerk auf die „Gesellschaftliche Bühne Glogaus" als einen „Hort geselliger Eintracht" zu lenken, der besonders den Offizieren und Beamten der Stadt zu gehobener Unterhaltung diente.
Dass das Theater damals nur das oberste Stockwerk des Gesamtbaues umfasste, wird nicht allen bekannt sein. Und wir wiederholen hier gern, was ein sehr bezeichnender Bericht aus der Zeit um die Jahrhundertwende von 1799 zu 1800 über das Glogauer „Komödienhaus" schreibt:
„Vielleicht hat die Muse in ganz Deutschland keinen so seltsamen Sitz wie hier. Denn im ersten Stockwerk oder im Parterre haben die Fleischer ihren Scharren und bieten hier nach einer alten Gerechtigkeit feil, im zweiten ist ein Kaffeehaus und im Winter die Redoute, im dritten endlich wohnen Thalia und Melpomene, so dass man hier stufenweise von dem ganz Fleischlichen zu dem ganz Geistigen hinaufsteigt. Aber wer die Umstände kennt, der würde ungerecht handeln, an dieser Einrichtung etwas zu tadeln. Das Haus liegt am Markt, also in einer bequemen und frequentierten Gegend; überdies ist der Raum in einer Festung teuer, und vielleicht war in der ganzen Stadt kein besserer zu finden. Warum sollte Thalia nicht zwei Treppen wohnen? Man würde gern drei steigen, um ein gutes Schauspiel zu sehen."
Ein gutes Schauspiel . . . Wir wissen, dass in der Zeit, als wir noch in Glogau waren, das Stadttheater wirklich gute Schauspiele geboten hat, dass beachtliche Operetten gespielt worden sind und dass hervorragende Opernaufführungen nicht selten waren.
Kulturelle und wissenschaftliche Vorträge, literarisch wertvolle Abende, Solisten und Kammerkonzerte, musikalische Großveranstaltungen, hervorragende Theateraufführungen — alle diese Ereignisse, die das Winterhalbjahr in Glogau ausfüllten, zeigten, dass sich bei uns ein reges wissenschaftliches, kulturelles und künstlerisches Leben entfaltete.
Glogau war zwar, kein Eckpfeiler der Kultur des deutschen Ostens, aber doch eine der Säulen, auf dem das schöne Gebäude deutscher Kultur und Kunstpflege im Südosten des Landes ruhte. Auch daran wollen wir immer wieder einmal denken. Und jetzt, im Winterhalbjahr, besonders.

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Nun zum Erntedank im Kreise Glogau. Allüberall war „Kirmst", wie die Kirmes in unserem Gebiet genannt wurde. Mit Schweineschlachten, mit Streuselkuchen und „Babe" (den die Österreicher „Gugelhupf" und alle übrigen Deutschen Topfkuchen nennen), mit fröhlichem Umtrunk und Tanz wurde unser Erntedankfest gefeiert. Es sind nun auch einige Jahrzehnte her, als der Verfasser aus GroßLogisch, „P.St.", den Hergang einer solchen Fete in seinem Heimatdorf schilderte: „Meist kam auch Besuch, und zwar der Onkel und die Tante mit ihren Kindern in der Pferdebespannten Karosse kilometerweit her. Es wurde gut gegessen und getrunken.
Und abends ging es dann zum Kirmestanz zu Waschkes am ersten Abend und am zweiten Abend zu Zimmerlings oder umgekehrt. Es spielte stets die Wiesauer Blaskapelle, wobei auch die Pauke nie fehlte. Die Mädels saßen schön nebeneinander auf einer Bank an den Wänden des Saales entlang. Und wir Burschen — „Jungen" sagen wir wohl besser — standen an der Tür, meist auch in Thekennähe, mitunter bis zur Saalmitte. Wenn dann die Musik einsetzte, setzte meist auch ein Wettlauf der Tänzer nach den schönsten Tänzerinnen ein. So kam es oft vor, dass sich mehrere Tänzer zugleich vor einem Mädchen verbeugten und sie zum Tanz aufforderten. Sie hatte nun die Wahl, die Glückliche!
An der Theke herrschte meist Hochbetrieb, denn es war so üblich, dass einer eine Lage Schnäpse ausgab, und die anderen revanchierten sich der Reihe nach, so dass der Gastwirt gleich mehrere Runden hintereinander einschenken konnte. In der Küche der Gastwirtschaft konnte man „Warme" mit Semmeln und Mostrich bekommen, „Polsche" oder Knoblauchwurst, (die den Alkohol wieder aufsaugten). Die älteren Herren spielten im Nebenraum Karten. Und wenn dann die Stimmung ihren Höhepunkt erreicht hatte, spielte die Musik auf einmal: „Nach Hause, nach Hause nach Hause gehn wir nicht..." Dies sollte aber nun der letzte Walzer sein. (Und wer da noch eine Verlängerung anstrebte, kam mit einer Runde für die Musik nicht davon.)
Am andern Abend, und das war immer der Montag, ging es dann zum Tanz in das andere Gasthaus. Während am Sonntagabend Mädel und Jungen aus den Nachbardörfern zum Tanz gekommen waren, waren wir am Montagabend ganz unter uns. So ähnlich wie hier in GroßLogisch ging es in allen Heimatkreisorten zu, wenn „Kirmst" war. Im Oktober längst vergangener Jahre ... längst vergangener Jahrzehnte. G. Dck.†