Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 5, April 2020

Linden - Teure Heimat

Fortsetzung aus NGA 3/2020

Lindenbach

Linden: Bahnhof, Schloss, Erholungsheim, Warenhaus Ernst Sander

Auf den Wiesen standen noch ein paar ramponierte Torfschuppen. Einer von ihnen barg ein Geheimnis, von dem ich kurz berichten will. In ihm wohnte zeitweise „der alte Joseph", der in allen Dörfern rings sehr bekannt war und als Kinderschreck gefürchtet wurde, trotzdem er niemals jemandem etwas Böses getan hatte. Früher hatte er in einer Ziegelei inmitten der Carolather Heide gearbeitet, doch nach Stilllegung derselben stromerte er ohne festen Wohnsitz im Lande umher. In gewissen Abständen tauchte er in Linden auf, ohne aber als Bettler zu hausieren. Man wusste nicht recht, wovon er eigentlich lebte, vermutlich erntete er auf den Feldern mit, sodann verstand er sich auf Schlingenstellen wie auch auf Fisch und Krebsfang. Das genügte ihm, und die Leute gingen ihm aus dem Wege, weil sie seine ungewöhnliche Stärke fürchteten.
An einem heißen Sommertage — ich war vielleicht zehn Jahre alt — war ich mit vielen anderen Kindern in der „Watschelgrube" zum Baden. Wir waren damals wohl schon sehr fortschrittlich gesinnt, denn wir machten fast alle in Nacktkultur, auch die Mädchen, die dabei waren. Plötzlich rief jemand: „Der Joseph kommt!" Richtig, dort war er ja schon! Nun gab es eine wilde Flucht von etwa 20 nackten Kindern, und zwar die Kirschallee entlang in Richtung Steinitz, denn nach Linden zu ging es nicht, von dort kam er ja. Er rief hinter uns her, doch es gab kein Halten. Als wir es wagten, zurückzublicken, sahen wir, dass er unsere Sachen — allzuviel waren es ja nicht — einsammelte und ein großes Bündel machte, das er dann an seinem Stock über der Schulter trug. So folgte er uns. Er nahm sich Zeit, denn wir konnten ihm kaum entgehn, weil der Weg ein Ende nahm und rundherum hohe Roggenfelder standen, die wir unmöglich niedertrampeln konnten. Nach rechts jagten wir noch ein Stück eine Anhöhe hinauf, doch dort standen wir bald vor einer sehr tiefen Sandgrube, die hier den Abschluss bildete. Aber jetzt war guter Rat teuer, und der „Strolch", dem immer der Griff eines langen Messers aus der Hosentasche schaute, kam näher und näher! Da gab es kein Halten mehr. Einer riskierte als erster den Sprung in die Tiefe, und als er in dem weichen Sande glücklich landete, ergoss sich bald ein ganzer Wasserfall von nackten Kinderleibern in den Abgrund, und allesamt kamen wohlbehalten unten an. Der alte Joseph schimpfte grässlich hinterher, und dann warf er das Kleiderbündel nach, das er ja nur nachgeschleppt hatte, um uns die Kleider zu bringen. „Die verdammten Äser" waren ihm entkommen. Einige Zeit nachher machte sich eine ganze Gruppe von jungen Kerlen auf, um ihn zu stellen und gehörig zu „verblauen", doch er war nicht aufzufinden. In Wahrheit kampierte er in einem der alten Torfschuppen, und das in aller Seelenruhe, aber das wurde erst viel später entdeckt. Nach wenigen Jahren blieb der Joseph verschwunden, und niemand weiß, wo er verblieben ist. An diesen Sonderling habe ich oft gedacht, wenn ich mal wieder in der Gegend war, doch von den Torflöchern aus zurück auf den Heimweg! Auf ihm konnte stets mit erwünschten Überraschungen gerechnet werden, sei es, daß plötzlich ein Fuchs zwischen den Kieferstämmen der „Gunsdal" — Kunzental — dahinschnürte oder gar ein Edelmarder einen Stamm hinaufturnte. Auf den Roggenstiegen saß während der Erntezeit oft die farbenprächtige Blaurake, der Wiedehopf ließ in einiger Entfernung seinen melancholischen Ruf „Upup" ertönen und der Pirol, der mein besonderer Liebling war, meldete sich weit drüben von einer Eiche mit wohlklingendem Pfeifen und rief: „Schenk mir ein Gläsel Bier ein!" Die Leute nannten ihn seines Rufes wegen „Biereule". Ihn fand ich einmal beim Durchschreiten eines kleinen Bauernwaldes an einem Baumaste hängend; er hatte sich beim Bau seines kunstvollen Hängenestes in seiner eigenen Schlinge gefangen und war umgekommen. Was den Wiedehopf anbelangt, so erinnere ich mich, dass er mitunter auf unseren Hof kam und dann auf den Dächern entlangspazierte, wobei er lebhaft mit seiner Federholle spielte.
Noch vieles gäbe es zu erzählen von dem reichen Naturleben in der alten Heimat, z. B. von den Störchen, die zu meiner Kinderzeit noch zahlreich auf Scheunen und hohen Bäumen horsteten, oder von den riesigen Vogelschwärmen, die, zumeist angeführt von einem Kleinspecht, den Winterwald durchstreiften und in denen sich Goldhähnchen, Zwerg und Tannenmeisen zusammenfanden. Nicht vergessen sei auch das Eichhörnchen. Es kam im Herbst regelmäßig in die Gärten und versorgte sich mit Nüssen, dabei geriet es dann oft in Gefangenschaft; letzteres passierte ihm freilich auch öfters im Walde. Ich hielt immer eines in einem Spielkäfig, und das wurde dann so zahm, dass man es herauslassen konnte. Es ging durch das offene Fenster und von dort aus auf die hohe Linde, die dicht davor stand. Von allein stellte es sich wieder ein, bis ihm dann eines Tages die Freiheit doch mehr gefiel und es nicht mehr zurückkehrte. Für Ersatz war in der Regel bald gesorgt. Ich verkaufte mitunter auch einen „Eichkater" für 1,50 Mark und hatte bei Beamten, Ärzten und. Apothekern in Schlawa guten Absatz. Ganz nebenbei sei bemerkt, dass ich den Apotheker auch mit Blutegeln versorgte und meines Wissens für das Stück 0,30 Mark erhielt.
Ehe ich schließe, will ich noch der warmen Sommerabende auf dem väterlichen Hof gedenken. Während es in der Ferne wetterleuchtete, entfaltete sich hier das Naturleben noch einmal in seiner ganzen Fülle. Viele, viele Schwalben — die Mehlschwalben mit ihren weißen, die Hausschwalben mit ihren roten Kehlen — jagten über den Hof, die ersten Fledermäuse fanden sich ein, und die Eule verließ das Gebälk auf dem Heustall und schwebte in die Linde. Abend und Nachtfalter, darunter die seltensten Arten, schwärmten jetzt durch die Luft und wurden gejagt. In dem nahen Dorfteich machten Hunderte von Fröschen ihr Konzert dazu. Von Zeit zu Zeit aber erklang von weither ein dunkler Ton wie von einer Glocke, sein Urheber war die Große Rohrdommel, die irgendwo in einem Teich saß und sich am Abend meist stundenlang hören ließ. „U dump, ü prump!" so klang es fast schauerlich, und unser Erntemann, der auf der wuchtigen Hausschwelle saß und den Sommerabend genoss, sagte: „Der Moorochs brüllt!"
Ja, es war eine einsame Gegend, dieser nordöstliche Winkel unserer Provinz Schlesien, und das war schön so!
O. R.