Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 1, Januar 2020

Unsere Flucht aus Gramschütz

Von Monika-Elke Müller,
geboren am 3.Mai 1942 in Gramschütz

Vor der Flucht

Eigentlich war unsere Familie ja den Fuhrwerken eines Bauern zugeteilt, um mit nur einem Koffer „vorübergehend“ vor der Front zurückzuweichen.
Als aber meine Mutter vorsorglich dort vorbeischauen wollte, waren alle auf dem Gehöft lange vor der festgelegten Zeit ausgeflogen.

Bis zur Flucht

Mein Großvater, der Schrankenwärter, konnte im Dienst zum Glück in Erfahrung bringen, dass am 27. Januar ein Treck aus Güterwagen in Gramschütz halten wird. Er wusste auch genau, dass wir bis nach Dresden fahren sollten und demnach auch nicht umgehend zurückkehren würden. Deshalb wies er seine drei Mädels (Oma, Tante und meine Mutti) an, für einen Wegzug aus der Heimat alle lebensnotwendigen Dinge einzupacken.
Opa konnte uns nicht einmal dabei helfen, denn er musste befehlsgerecht seinen Reichsbahndienst außerhalb von Gramschütz verrichten.

Flucht 1945

Tag der Flucht

An dem 27. Januar lag unheimlich viel Schnee. Wir hatten für unsere Ziegen einen zweirädrigen Wagen mit Deichsel. Dieser wurde mit unseren Habseligkeiten vollgepackt.
Aber die Tour zum Bahnhof wurde für meine Tante (35 Jahre) und die Mutti (24 Jahre) zu einer wahren Tortur bei Schneeverwehungen und ohne gespurten Weg. Oma verließ als letzte das Haus. Sie musste mich mit meinem Rodelschlitten und noch allerlei Zeug drauf, zum Zug schaffen. Es war ja wirklich hundekalt, und so hatten sie ihr Monikind in möglichst viele warme Kleidungsstücke eingemummelt. Das führte prompt dazu, dass meine Oma dieses zappelige runde Kleiderbündel einmal vom Schlitten verlor. Ich weiß auch noch, dass es lustig war, als mich Oma aus dem Schnee holte und aufrichten wollte. Zum Glück hatte mich die furchtbare Angst und Hektik der Erwachsenen nicht angesteckt.
Endlich war alles im Güterwagen verstaut, und Oma wollte einen Schluck Wasser trinken.
Dabei merkte sie voller Entsetzen, dass sie ihr Gebiss in der Küche in der Gartenstrasse vergessen hatte. Der Schrecken ihrer beiden Töchter war riesig, weil ja keiner wusste, wann der Zug seine Lok bekommt und abdampfen würde.
Also ist die Jüngste, sprich meine Mutti, losgerannt, hat die wichtigen Beißerchen geholt und unseren Zug zum Glück rechtzeitig erreicht.

Im Waggon

Er war rappelvoll mit Gepäckstücken (siehe Bild) und Menschen. Doch irgendwie gab es in der Mitte einen Kanonenofen. Oma hatte ja die letzten Hühnereier noch abgenommen und in der Eile in ihr Nachthemd eingepackt. Das folgende Szenario sehe ich heute noch vor mir: Ein lauter Schrei meiner Oma und dazu in ihren Händen der weiße Stoff über und über gelb von den Dottern der Eier. Leider weiß ich nicht mehr, ob da noch etwas Essbares zu retten gewesen ist.
Mitunter war Halt auf freier Strecke und es wurde irgendwie von Waggon zu Waggon mitgeteilt, wie lange es wohl dauern würde bis zur Weiterfahrt. Um ihre Notdurft zu verrichten wollten alle Flüchtlinge raus – Klo gab es ja nicht, nur Eimer für die Erwachsenen und Töpfchen für uns Kinder. Aber weiß jemand, wie weit so ein Waggonausstieg vom Gleisbett entfernt ist? Und darauf lag auch noch jede Menge Schnee, der die Sicht auf den Untergrund versperrte.
In unserer Not ging alles gut, jeder half jedem. Und in meiner Erinnerung höre ich meine Mutti laut lachen, als ich aufschrie, weil sie mich wohl beim Lullern nicht hoch genug gehoben hatte und mein nackter Popo kurz den Schnee berührt hat. Weitere Erinnerungen zur Fahrt fehlen mir leider.
Für die Nacht wurden wir Kinder, ich weiß nicht, wie viele es waren, ganz oben unter dem Dach auf die Gepäckstücke gelegt. Dort oben landete ja das bisschen warme Luft.
Einmal morgens (hat man mir viel später erzählt) war das Monikind an der Waggondecke festgefroren. Runtergeholt – alles gut? Leider nicht, denn ich war danach zum Leidwesen meiner drei Lieben ohne jede ärztliche Hilfe wochenlang sehr krank.
Erst Jahre später in der Grundschule stellte ein Röntgenarzt bei mir eine alte verheilte Rippenfellentzündung fest.

Halt in Lutherstadt Wittenberg

Unsere Lok wurde für einen Zug Richtung Front gebraucht. Das bedeutete keine Weiterreise per Bahn. Alles, Menschen und sämtliches Gepäck, musste auf den Bahnsteig gestellt werden. Uns wurde erst einmal ein Platz in einer Turnhalle zugewiesen. Das ganze Gepäck, was daheim auf dem zweirädrigen Karren gelegen hatte, mussten meine Frauen irgendwie ohne Hilfe dorthin schleppen. Aber ich war auch noch zu betreuen und eine Person musste ja auf unser weniges Hab und Gut aufpassen sowohl in der Turnhalle als auch auf dem Bahnsteig.
Man half sich unter den wenigen Bekannten, und so schafften es alle ohne Verluste in die Unterkunft.
Für die Beschreibung unserer weiteren Odyssee in der Lutherstadt Wittenberg mit dauernd wechselnden Vermietern, Fliegeralarmen, Beschimpfungen als Diebe oder Pollacken wäre wohl ein ganzes Buch nötig.
Jedenfalls fand unser Eisenbahner-Opa uns nach vielen Wochen wie durch ein Wunder in der mittlerweile dritten Unterkunft.
Unsere Freude war riesig, endlich wieder ein Mann mit an Bord. Mein Vater wurde bereits im Dezember 1942 in Stalingrad erschossen und der Sohn meiner alleinerziehenden Tante kurz vor Weihnachten 1944. Opa hatte in Wittenberg Arbeit bei der Bahn bekommen, was für ein Segen. Aber leider währte dieses Familienglück nur acht Wochen, denn mein Opa verstarb an irgendeiner Vergiftung. Selbst meine Mutti, die auch ausgebildete Rot-Kreuz-Schwester war, konnte es sich nicht erklären. Nun kommt wohl die schlimmste Geschichte: Kein Arzt kam zu dem Toten und man wollte den Flüchtling, den Christen aus Schlesien nicht einmal auf dem Friedhof der Lutherstadt beerdigen lassen. Meine Mutter hat, ich erfuhr niemals auf welche Art und Weise, einen Sarg aus Pappe und einen zweirädrigen Karren (größer als der unserer Ziegen) besorgt. Die drei Frauen schafften mit eigener Kraft unseren Opa zum Friedhof und seine drei Mädels durften ihn auch dort ohne Pfarrer in die Erde zur Ruhe legen.

Schlussbetrachtung

Nun noch einen Hinweis, wieso ich eigentlich 77 Jahre alt geworden bin:
Erstens sollte unser Güterwagentreck bis nach Dresden fahren. Dort sind wir nie angekommen und daher dem grässlichen Inferno entgangen.
Und zweitens hatten Oma, Tante und Mutti es nun wieder ohne Mann und mit den vielen Anfeindungen und Hindernissen endgültig satt mit ihrem Leben. Sie konnten ja als Dorfschulkinder alle drei nicht schwimmen und wollten in die Elbe gehen. Zum Fluss gegangen sind sie in ihrer totalen Verzweiflung auch. Aber zu meinem Glück sind wir alle Vier zu unserer schrecklichen Unterkunft zurückgekehrt, denn weder Oma, noch Tante oder gar meine Mutti wollten mich mit in den kalten Tod nehmen.

Mein sehnlichster Wunsch ist, dass endlich das
Flüchten und die sinnlosen Kriege in dieser
unserer eigentlich schönen Welt aufhören.